MedienpsychologeWarum wir uns für Serienmarathons nicht zu schämen brauchen

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Eine Frau liegt auf dem Sofa, schaut auf einen Laptop und freut sich.

Serien können einen aus dem Alltag wegtragen in eine andere Welt. Wie viel davon aber tut uns gut?

Immer mehr Menschen schauen oft und lange Serien. Hat das mit der Dauerkrise zu tun? Und ab wann wird es schädlich?

Füße hoch, Streaming an und für Stunden eintauchen in eine selbst gewählte Serienwelt. In den letzten Jahren ist Serienschauen für viele zur beliebten Freizeitbeschäftigung geworden. Während der Pandemie war der Serienplatz auf der Couch schlicht ein möglicher Ersatz für all die geselligen Tätigkeiten, die nicht mehr erlaubt waren. Aber auch jetzt ist der Serienkonsum ungebrochen hoch. Hat das vielleicht auch mit den vielen Konflikten und Katastrophen unserer realen Welt zu tun, vor denen wir nur allzu gerne in fiktive Serienwelten flüchten?

„Serien als Genre haben über die letzten Jahre eine wahnsinnige Erfolgsgeschichte hingelegt“, sagt Medienpsychologe Prof. Leonard Reinecke von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. „Das liegt zum einen am Aufkommen der großen Streaming-Anbieter, zum anderen aber auch daran, dass die Serien aufwendig produziert werden und noch viel stärker als früher zu einer komplexen Kunst- und Erzählform geworden sind.“ Dass Menschen eine große Faszination für Serien entwickelten, liege also vor allem auch an ihrer hohen Qualität.

Serien werden benutzt, um temporär mit Belastungen fertig zu werden

Warum man gerne und viel Serien schaue, das könne viele unterschiedliche Gründe und Hintergründe haben. „In krisenhaften Zeiten wie jetzt, in denen es dauernd schlechte Nachrichten gibt, die uns mehr oder weniger direkt betreffen, werden Medien auch als psychologische Bewältigungsstrategie benutzt – also um besser mit Stress und Belastung umgehen zu können.“ Man tauche vorübergehend in eine Welt der Geschichten ein, die mit der eigenen belastenden Ausgangslage nicht viel zu tun haben und distanziere sich damit psychologisch von der echten Welt. „Es ist eine Art Flucht vor der Wirklichkeit. So können spannende oder unterhaltende Serien eine Art temporärer Schutzort, eine Insel des Rückzugs sein, wo man sich ein wenig erholen kann“, sagt Reinecke. Das gelte nicht nur in Zeiten der Krise, sondern auch im normalen stressigen Alltag.

Seriengucken könne also durchaus sinnvoll sein, um diesen Stress eine Zeit lang auszublenden. „Das darf jedoch nicht die einzige Bewältigungsstrategie in schwierigen Situationen bleiben. Letztlich löst ablenkender Serienkonsum nämlich keine Probleme.“ Und es komme natürlich auf die Dosis an. „Jede Tätigkeit, die man exzessiv und obsessiv ausübt, schadet – egal, ob das jetzt Shakespeare-Lesen ist oder Serienschauen.“ Um sich psychisch wohl zu fühlen, sei es grundsätzlich wichtig, einen vielfältigen, ausgewogenen Alltag mit verschiedenen Freizeitbeschäftigungen zu haben.

Mit dieser Ausgewogenheit ist es aber manchmal so eine Sache. Wer schon einmal mit Leidenschaft eine Serie geschaut hat, weiß zu gut, wie groß der Drang ist, weiter zu gucken, um zu erfahren, wie sich die Geschichte entwickelt. Und wie schnell dabei die Zeit verfliegt. Plötzlich ist es zwei Uhr nachts – und andere Dinge sind einfach liegen geblieben. Nicht umsonst hat sich in den letzten Jahren der Begriff „Binge-Watching“ entwickelt, der beschreibt, dass eine Serie an einem Stück über Stunden durchgeschaut wird. „Ich bin gar kein Fan des Begriffes ‚Binge-Watching‘, weil damit ein zwanghaftes, schädliches Verhalten unterstellt wird“, sagt Leonard Reinecke. „Dabei ist selbst ausgedehnter Serienkonsum für die meisten Nutzerinnen und Nutzer völlig unproblematisch.“ Sich mit Hingabe, Genuss und Zeit einer Serie zu widmen, das sei überhaupt nichts Negatives – im Gegenteil. „'Marathon-Viewing‘ finde ich deshalb den schöneren Begriff.“

Jede Tätigkeit, die man exzessiv und obsessiv ausübt, schadet – egal, ob das jetzt Shakespeare-Lesen ist oder Serienschauen
Leonard Reinecke, Professor für Medienpsychologie

Serienschauen hat kein gutes Image

Dennoch hat man am Ende eines spannenden Serienmarathons oft ein Gefühl von Reue und fragt sich, ob man die Zeit auch hätte anders nutzen können. „Dieses schlechte Gewissen hat auch damit zu tun, dass Unterhaltung bei uns in Deutschland eher schlecht bewertet wird“, sagt Reinecke, „keiner ist stolz darauf, sich intensiv einer Seriengeschichte gewidmet zu haben, sondern es besteht immer der Druck, sich mit vermeintlich höherwertigen Dingen auseinanderzusetzen.“ Seriengucken habe gesellschaftlich einfach kein gutes Image. Auch deshalb werde es, wie andere Medien auch, häufig pathologisiert. „Schnell heißt es dann, Serienschauen ist der Grund dafür, warum jemand sein Leben nicht auf die Reihe kriegt.“

Dann werde auch der Begriff „Seriensucht“ alarmistisch ins Spiel gebracht. „Dabei gibt es überhaupt keine belastbaren Hinweise darauf, dass es Seriensucht in ernstzunehmendem Umfang gibt.“ Medien seien nicht in gleicher Weise ein Suchtstoff wie Alkohol, dem man verfalle und der dann ernste Konsequenzen in der realen Welt habe. „In der Regel führt Serienkonsum nicht dazu, dass Menschen das Haus nicht mehr verlassen und alles andere vernachlässigen“, sagt Leonard Reinecke, „und wenn, dann ist die übermäßige Seriennutzung auch eher eine Folge als die Ursache – das bedeutet, jemand schaut deshalb exzessiv Serien, weil es im echten Leben ein Problem gibt.“

Selbst ausgedehnter Serienkonsum ist für die meisten Nutzerinnen und Nutzer völlig unproblematisch.
Leonard Reinecke, Professor für Medienpsychologie

Übermäßiger Serienkonsum kann auf echte Probleme hindeuten

Lande man zum Beispiel jeden Abend auf der Seriencouch, weil man keine Energie mehr für etwas anderes übrig habe, liege das Problem in der völlig überladenen Alltagsstruktur. „Schaut man immer Serien, anstatt Dinge anzugehen, dann ist nicht die Serie das Problem, sondern der ständige Drang zum Prokrastinieren – denn wenn es nicht die Serie ist, findet sich schnell etwas anderes, das beim Aufschieben hilft.“ Auch Einsamkeit könne sich hinter hohem Serienkonsum verstecken. „Die Bereitschaft, sich auf Seriencharaktere einzulassen und mit ihnen zu interagieren, ist sicher besonders hoch, wenn es im eigenen Leben eine gewisse soziale Leere gibt.“ Trotzdem heiße das nicht, dass einsame Menschen Serienfiguren mit echten Menschen verwechselten.

Was hat es aber nun mit dem drängenden Gefühl auf sich, eine Serie unbedingt allabendlich weiterschauen zu müssen? „Es kann sein, dass Seriennutzung zu einer problematischen Gewohnheit wird, so wie man sich auch ungesunde Ernährungsweisen oder zu wenig Bewegung angewöhnt.“ Vieles davon laufe in Form fester Rituale oder Routinen ab. „Aber das ist nicht zu vergleichen mit einer Suchterkrankung, aus der jemand nur durch eine Behandlung wieder heraus kommt.“ Im Gegenteil seien viele Menschen durchaus fähig, ihre Mediennutzung kritisch zu reflektieren und sich Gewohnheiten mit etwas Anstrengung auch wieder abzugewöhnen.

Serien haben auch viele positive Funktionen

Und neben dem Blick auf das mögliche Zuviel dürfe man auch eins nicht vergessen: „Serien haben für uns auch ganz viele positive Funktionen“, sagt Leonard Reinecke. „Wir entwickeln teilweise starke Bezüge zu den Seriencharakteren, sogenannte parasoziale Beziehungen.“ Dann fühle es sich so an, als würde man eine Figur kennen. „Diese Charaktere immer wiederzutreffen, kann etwas sehr Schönes sein.“ Serien könnten zudem die Stimmung heben, uns zum Nachdenken anregen und unsere Perspektive auf die Welt verändern. „Beim Serienschauen können wir viel über uns selbst lernen.“ Häufig gehe es darin ja um die großen Fragen nach Leben und Tod, Liebe und Verlust. „Serien sind ein Schutzraum, in dem man stellvertretend Erfahrungen machen kann, die man im echten Leben lieber vermeiden würde.“ Auch das sozial verbindende Element von Serien sei wichtig. „Viele tauschen sich in einer echten Community über Serien aus und in Freundeskreisen kann es identitätsstiftende Wirkung haben, Fan derselben Serie zu sein.“

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