StudieCorona-Infektion kann Symptome wie bei Multipler Sklerose auslösen

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Sars-Cov-2 unterm dem Mikroskop. Eine Corona-Infektion kann laut Studien der Multiple Sklerose ähnelnde Symptome auslösen.

Düsseldorf – Eine Corona-Infektion kann ein in der menschlichen DNA verbliebenes altes Virus wecken, das starke entzündliche Reaktionen im menschlichen Körper auslöst. Darauf deutet eine aktuelle Studie hin. In der Medizin ist das Virus schon lange bekannt und laut wissenschaftlicher Studien bei Multipler Sklerose (MS) an der damit einhergehenden Degeneration der Schutzschicht von Nervenfasern beteiligt. Neu ist jedoch, dass das Virus auch bei Covid-Symptomen eine Rolle spielt.

Corona-Infektion kann im Körper schlafendes inaktives Virus wecken

Der US-amerikanische Epidemiologe Eric Feigl-Ding hat auf Twitter auf eine aktuelle Studie verwiesen, die genau das zeigt.

HERV-W heißt das Virus, das ein endogenes Retrovirus ist, was bedeutet, dass es sich im Laufe der Evolution ins menschliche Genom eingeschlichen hat und dort als inaktiviertes Fragment verblieben ist. Er sollte eigentlich friedlich schlummern und folgenlos bleiben. Eigentlich. „SARS-CoV-2 kann das endogene Retrovirus wecken“, sagt Prof. Dr. Patrick Küry, Leiter der Arbeitsgruppe für Neuroregeneration am Universitätsklinikum Düsseldorf und Professor für Neuroregeneration.

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Prof. Dr. Patrick Küry

Für Küry ist das Retrovirus, dessen „toxisches Hüllprotein Env“ Zellen angreift, kein Unbekannter. In Untersuchungen haben er und sein Forschungsteam bereits früher festgestellt, dass es offenbar wesentlich dazu beiträgt, dass die Myelin-Schicht, die die Nervenfasern normalerweise schützend umgibt, degeneriert und abgebaut wird. Doch was bedeutet das? Kann eine Covid-Infektion womöglich MS auslösen?

Covid-Syptome erinnern an Symptome der Multiplen Sklerose

Nein, sagt Küry, aber: Wenn durch die SARS-CoV-2 Infektion dieses endogene Retrovirus mit seinem toxischen Hüllprotein geweckt wird, könnte das zu den bei Covid beobachteten Symptomen wie Fatigue – einer überbordenden Müdigkeit und Erschöpfung –, Sensorikausfällen, Kribbeln am ganzen Körper und Schwäche führen. Symptome, die unter anderem auch bei der MS vorkommen. Nach aktuellem Wissensstand treten diese Symptome bei Covid-Patienten im Vergleich zu MS-Patienten aber über einen wesentlich begrenzteren Zeitraum von wenigen Wochen oder Monaten auf.

Endogene Retroviren – HERV-W Env

Das menschliche Genom besteht zu rund acht Prozent aus Viren, die sich mit einem Teil ihres Erbguts im Laufe der Evolution eingeschlichen haben und dort in der Regel inaktiv verbleiben. Allerdings können diese, wie im Fall von HERV-W Env und der Multiplen Sklerose durch bestimmte Auslöser aktiviert werden. 

HERV-W Env spielt auch bei Diabetes Typ I, Schizophrenie und der chronisch inflammatorischen demyelinisierenden Polyradikuloneuropathie (CIDP), eine entzündliche Autoimmunerkrankung der peripheren Nerven eine Rolle.

Allerdings konnten bei Covid-Patienten „deutlich größere Mengen des viralen Proteins Env gefunden werden als bei MS-Patienten“, sagt Küry mit Verweis auf eine Studie aus dem Jahr 2021, an der neben vielen anderen auch Forscher der Universität Rom beteiligt waren. Die eingangs erwähnte, noch nicht publizierte Studie, für die auch Gewebeproben von an Covid verstorbenen Patienten analysiert wurden, zeigt zudem, dass das Hüllprotein von HERV-W in der Lunge, im Herzen, im Gehirn – hier speziell im Riechkolben – und der Nasenschleimhaut nachgewiesen werden kann.

Es sind genau die Organe und Punkte, an denen sich eine Corona-Infektion besonders manifestiert und oft zu sehr schwerwiegenden Symptomen führt. „Das feingewebliche Bild der Env-Produktion in den Immunzellen im Gehirn erinnert an Aspekte bei der MS. Ob es auch zu einem ähnlichen Grad an Zerstörung im Gewebe der Covid-Patienten kommt, müssen Folgestudien klären“, so Patrick Küry.

Allerdings: Nicht bei jedem, der mit Covid infiziert war, werde das endogene Retrovirus auch „wach“. Die aktuellen Studien zeigten, dass das bei etwa einem Viertel der Corona-Erkrankten der Fall war. Warum das so ist, sei aktuell noch unklar. Genetische Faktoren könnten eine Rolle spielen.

Ausmaß der Folgen noch nicht abzusehen

„Wenn das endogene Retrovirus HERV-W geweckt wurde, dann bedeutet das in der Regel Ärger“, macht Patrick Küry deutlich. Wie groß genau Ausmaß letztlich is, sei noch völlig offen. Weitere Spätfolgen und Schäden könnten sich bei Betroffenen, die Corona-infiziert waren, erst in fünf, zehn Jahren oder noch später zeigen.

Zur Person

Patrick Küry ist außerordentlicher Professor für das Fach Neuroregeneration an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Leiter der Arbeitsgruppe für Neuroregeneration am Universitätsklinikum Düsseldorf und befasst sich vor allem mit Mechanismen der Degeneration und Reparatur im Nervensystem 

Küry hat 1992 am Biozentrum der Universität Basel sein Diplom in Biologie II (Biochemie, Biophysik, Molekularbiologie und Zellbiologie) erhalten. Danach hat er am Friedrich Miescher-Institut gearbeitet, 1996 folgte die Promotion. 1996 bis 1998 war Küry als Post-Doc an der United Medical and Dental School der Universität London tätig.

Dass mit dem geweckten Virus offenbar nicht zu spaßen ist, macht auch ein Twitter-Post der amerikanischen Ärztin Lisa Johnston deutlich: „Als ob wir ein weiteres Problem bräuchten, aktiviert Covid einen alten Virusüberrest (HERV), der in unserer DNA schlummert. Es ist der Jurassic Park der Viren. Als würde man Dinosaurier wieder zum Leben erwecken“, heißt es dort.

Doch es gibt auch Hoffnung, und die kommt von den Schweizer und französischen Forschern der Firma GeNeuro, die zurzeit eine klinische Studie mit einem Antikörper zur Behandlung der Neurodegeneration bei MS durchführen. Laut Küry befindet sich diese Studie bereits in der fortgeschrittenen Phase zwei. Dabei wird momentan die Wirksamkeit dieses Antikörpers bei MS-Patienten getestet. In Phase drei folgt dann eine Testung mit noch mehr Patienten. Wird die Wirksamkeit des Medikaments auch darin bestätigt, kann die Zulassung als Medikament beantragt werden.

Klinische Studie zu Antikörper für MS-Therapie

Der Nachweis, dass SARS-CoV-2 genau jenes endogene Retrovirus weckt, das im Verdacht steht die Degeneration der Nervenzellen-Schutzschicht bei Multipler Sklerose zu verursachen, habe dem klinischen Test von GeNeuro nochmal einen Schub gegeben, sagt Patrick Küry. Und es heißt auch: Wenn der Antikörper die Symptome von MS tatsächlich wirksam bekämpfen und wenn bewiesen werden kann, dass der Antikörper das toxische Hüllprotein erfolgreich neutralisieren kann, dann könnte das auch ein wirksamer Therapieansatz für Long-Covid-Patienten sein, unabhängig davon, ob die Patienten primär an neurologischen Problemen oder anderen Langzeitfolgen leiden.

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Genau das untersucht GeNeuro in einer weiteren Studie, die von der Schweizer Regierung mit 6,4 Millionen Euro gefördert wird. Wie nötig eine Behandlung von Long-Covid-Symptomen sein wird, zeigen die Zahlen. In Deutschland haben sich seit Beginn der Pandemie rund zwölf Millionen Menschen mit Corona infiziert. „Große wissenschaftliche Studien zeigen, dass sich mehr als zehn Prozent der Menschen, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren, nicht vollständig erholen und/oder neue Symptome mit einem hohen Anteil an neurologischen und/oder psychiatrischen Störungen, entwickeln“, heißt es in einer Mitteilung von GeNeuro. In Deutschland beträfe das also etwa 1,2 Millionen Menschen.

Erste Ergebnisse der Studie zu einer möglichen Therapie von Long Covid werden voraussichtlich im kommenden Herbst veröffentlicht.

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