Volksleiden SchwindelWas tun, wenn es sich ständig dreht im Kopf?

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Schwindel kann die Lebensqualität enorm einschränken. 

München/Köln – Zwei Jahre lang ließ der Schwindel Brigitte H. den Boden unter den Füßen verlieren. Für Minuten, Stunden, später für Wochen. „Ich war wie benommen, mein Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt“, sagt die heute 79-Jährige. Kopf und Körper waren dann nicht in Balance – und mit der Zeit ihr gesamtes Leben. Brigitte H. traute sich nicht zur Gymnastikstunde, nicht ins Schwimmbad, Ausflüge zu Fuß und Autofahrten waren tabu.

Schwindelgefühl, wie auf Watte gebettet

Die Leidensgeschichte nahm ihren Anfang, als die Seniorin eines Nachts beim Seitenwechsel im Bett von einer Schwindelattacke überrascht wurde. Auch am nächsten Tag „fühlte, dachte und lief ich wie auf Watte gebettet“. Die Unsicherheit steigerte sich und mit ihr die Panik vor dem „kaum zu beschreibenden, aber beängstigendem Gefühl“, die kurze Zeit später in einem Kollaps und der Einweisung auf die neurologische Station einer nahen Klinik gipfelte. Brigitte H. wurde vermessen und getestet. Doch eine Diagnose blieb aus. Auch der folgende Ärzte-und Therapeuten-Marathon von Hausarzt über HNO-Arzt und Neurologe zum Physiotherapeut verlief ergebnisoffen. Brigitte H. vermied Situationen und Bewegungen, die den Schwindel hervorrufen könnten. Soziale Kontakte nahmen ab, die gefühlten Karussell-Fahrten zu und mit ihnen der Gedanke, „ich werde nicht ernst genommen, für verwirrt erklärt und mit meinem Leiden alleingelassen“.

Unterversorgung trotz Volksleiden

Brigitte H. ist alles andere als eine Ausnahme: Ein Drittel aller Menschen (laut einer US-amerikanischen Studie vor allem um die 40-Jährige), leiden im Laufe ihres Lebens unter Schwindel, der damit als Volksleiden gilt. Trotzdem werden Betroffene hierzulande unter- oder fehlversorgt, was die Diagnose und auch die Therapie betrifft. „Häufig dauert es viel zu lange, bis die Ursache gefunden wird, nachdem zuvor nicht zielführende und unnötige apparative Untersuchungen gemacht wurden“, kritisiert auch Professor Michael Strupp vom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum der Uni München.

Der Grund: Nur wenige Mediziner seien umfassend und interdisziplinär ausgebildet und auf Schwindel spezialisiert. „Das ist das wesentliche Problem und beginnt schon im Studium: das Thema fällt oft zwischen die Stühle der verschiedenen Fachrichtungen.

Strupp

Professor Michael Strupp.

Es setzt sich dann in weiteren Ausbildung leider fort, insbesondere zwischen der HNO und der Neurologie. Erste kennt sich besonders gut mit dem Innenohr aus, letztere mit dem Nervensystem und der Patient weiß oft nicht, zu wem er gehen soll, läuft von Arzt zu Arzt“, kritisiert Strupp

Lagerungsschwindel und Probleme mit dem Halswirbel

Wie Brigitte H., deren Leidensgeschichte jedoch im September eine Wende nahm, nachdem sie mit denselben Symptomen wie zwei Jahre zuvor in dieselbe Klinik eingeliefert wurde, und Ärzte, nachdem sie einen Schlaganfall ausschließen konnten, einen Lagerungsschwindel diagnostizierten. Brigitte H. versuchte es mit den von den Ärzten empfohlenen „Befreiungsmanöverübungen“, doch der Schwindel wurde stärker. „Das muss so sein und ist ein gutes Zeichen", sagt Strupp. Brigitte H. wandte sich erneut an einen Physiotherapeuten, der Verspannungen in der Halswirbelsäule (HWS) behandelte. Zwar verursache die Wirbelsäule, wie Strupp betont, keinen Schwindel, „dennoch leiden viele Patienten unter sekundären HWS-Beschwerden, weil sie die HWS-Muskulatur anspannen, um das System zu stabilisieren.“

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Viele Schwindelformen, viele Ursachen

Das Spektrum möglicher Ursachen ist breit und reicht von Erkrankungen des Innenohrs über Störungen im Bereich des zentralen Nervensystems bis hin zu so genannten funktionellen Störungen. Das heißt, auch die Psyche kann eine Rolle spielen. Selten sind bestimmte Medikamente die Ursache von Schwankschwindel wie Mittel gegen Epilepsie. Strupp betont, dass „Ärzte ihre Einstellung und Haltung zum Thema Schwindel ändern sollten, denn eine Diagnose ist in den meisten Fällen einfach, wenn auch nicht trivial: Sie basiert auf Zuhören und körperlich untersuchen. Wenn man die richtige Diagnose gestellt hat, kann man viele Patienten gut behandeln und deren Lebensqualität deutlich verbessern“. Schließlich seien Stürze, der Verlust des Vertrauens in den eigenen Körper, Scham, Angst und ein sozialer und beruflicher Rückzug häufig Folgen andauernder Schwindelbeschwerden.

Schon nach drei Sitzungen bei besagtem Physiotherapeuten setzte eine Linderung von Brigitte H.s Schwindelbeschwerden ein, heute besucht sie wieder die Gymnastikstunden, fährt in die Kölner City zum Einkaufen und wagt sich in den Wald zum Spazierengehen.

Benommenheit seit Schleudertrauma

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Physiotherapeutin Katrin Berger. 

Wie Strupp wird auch Katrin Berger nicht müde, darüber aufzuklären, dass Schwindel interdisziplinär zu betrachten und behandeln sei. Die 43-jährige Physiotherapeutin hat sich auf Schwindeltherapie spezialisiert, besucht seit vielen Jahren Fort- und Weiterbildungen zum Thema und kennt den Leidendruck ihrer zum Teil sehr jungen Patienten. Berger erzählt von einem 34-jährigen Polizisten, der seit einem Schleudertrauma vor zehn Jahren unter einem permanenten „Benommenheitsgefühl“ leidet, vor allem, wenn er sich in Menschenmengen befindet. Als funktionellen Schwindel beschreiben Experten heutzutage diese Form. „Eine mögliche Erklärung dafür ist die fehlende Rückanpassung: Nach einer akuten Erkrankung des Innenohrs beispielsweise kompensieren Patienten häufig mit den Augen und verwenden eine so genannte Glatteisstrategie mit Anspannung der Beinmuskeln. Bei einigen Patienten bleibt sie auch bestehen, wenn das Ohr geheilt ist. Sie wird durch Angst verstärkt“, sagt Berger.

Die Ursachen seien noch nicht vollständig geklärt, aber man wisse inzwischen: Eine Störung der Netzwerke im Gehirn führt zu einer Überaktivität für das Sehen und eine verminderte Aktivität für die räumliche Bewegung. Diese Schwindelform kann nach oder im Rahmen einer anderen Erkrankung (z.B. Lagerungsschwindel oder Schwindelmigräne) auftreten oder bei einer Angststörung.

Kleines Schwindel ABC

Definition: Schwindel ist keine Krankheit, sondern ein Leitsymptom, das mit einer Störung der räumlichen Orientierung einhergeht und sich in Drehen, Schwanken oder Benommenheit, häufig begleitet von Übelkeit, Stand- und Gangunsicherheit äußert. Es gibt häufige zugrundeliegende Erkrankungen, die vom Innenohr, dem zentralen Nervensystem oder der Psyche ausgehen können.

Die häufigsten Schwindel-Ursachen: Eine grobe Faustregel lautet: Rund 40 Prozent kommen vom Gleichgewichtsorgan im Innenohr, 20 Prozent durch neurologische Erkrankungen wie Schlaganfälle, degenerative Erkrankungen z.B. des Kleinhirns oder Multiple Sklerose. Bei 20 Prozent handelt es sich um einen „funktionellen Schwindel“, der auf einer verstärkten Selbstbeobachtung der Balance beruht. Selten können auch Herz-Kreislauferkrankungen, Medikamente gegen Bluthochdruck oder epileptische Anfälle Schwindel auslösen.

Die häufigsten Schwindelformen: Rund 20 Prozent der Patienten sind von einem funktionellen Schwindel betroffen, also einem Schwank- oder Benommenheitsschwindel, der sich in bestimmten Situationen wie Menschenansammlungen verstärken kann. Die zweithäufigste Form ist der gutartige Lagerungsschwindel, der sich anfühlt, wie beim Karussellfahren, attackenweise bei Lageänderung (z.B. Umdrehen im Bett) auftritt und meist aufgrund von Alterungsprozessen im Gleichgewichtsorgan entsteht. Dabei lösen sich im Innenohr liegende Kristalle und gelangen in einen Bogengang. Bei Lageänderungen purzeln die Kristalle dort hin und her und lösen Drehschwindel aus. Der zentrale vestibuläre Schwindel (dritthäufigste Schwindelform) entsteht durch Störungen im Bereich des Hirnstamms und Kleinhirn. Ursachen sind Schlaganfälle, neurodegenerative oder entzündliche Erkrankungen wie Multiple Sklerose. Eine weitere häufige zentrale Form ist die Schwindelmigräne, die durch wiederkehrende Episoden mit Schwindel, Kopfschmerz, Licht- und Lärmempfindlichkeit gekennzeichnet ist. Unter Morbus Menière leiden etwa 10 Prozent der Schwindelpatienten. Im Vordergrund stehen Episoden mit Schwindel, Hörstörungen und Tinnitus. Ursache ist ein Überdruck des Innenohrs. Schließlich kann eine Entzündung des Gleichgewichtsnervens durch Herpesviren zu Drehschwindel, Übelkeit und Fallneigung führen.

www.lmu-klinikum.de/schwindelzentrum

http://therapie-schwindel.de/therapeutenverzeichnis/

Vorübergehender Schlaganfall war der Grund

Als der junge Polizist vor wenigen Monaten zusätzlich unter einem eingeschränkten Blickfeld und Schwindelgefühl litt, stellten Neurologen fest, dass er eine transitorische ischämische Attacke (TIA)  erlitten hatte, und rieten ihm zu einer physiotherapeutischen Schwindeltherapie mit Balancetraining. Berger verordnete ihm ein tägliches Trampolintraining, trainierte die Nacken-Schulter-Muskeln und das Gleichgewicht. Die Beschwerden des jungen Mannes besserten sich nach zwei Wochen, was jedoch nicht bedeute, dass bei jeder Person eine rasche Linderung der Beschwerden eintrete. „Je nach Schwindelsyndrom können wir kurzfristig Teilerfolge herbeiführen, die allerdings die Lebensqualität der Patienten erheblich verbessern“, sagt Berger. Bei anderen Patienten, bei denen etwa beide Gleichgewichtsorgane ausgefallen sind, brauche es Zeit und Geduld.

Diejenigen sollten „nicht locker lassen“, motiviert auch Strupp. „Bleibt die Diagnose unklar oder bessern sich die Beschwerden nicht, sind Verlaufskontrollen wichtig, da sich oft aus dem Verlauf der Beschwerden und eventuellen neuen Befunden die Diagnose ableiten lässt und eine spezifische Behandlung eingeleitet werden kann.“

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