Was uns das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten über die Stärke der Gemeinschaft lehrt, erklärt der Kölner Psychologe Stephan Grünewald.
Kölner Psychologe GrünewaldWarum die Bremer Stadtmusikanten uns helfen können, aus der Krise zu kommen

Die Bremer Stadtmusikanten am Rathaus
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Wenn im Herbst die Tage kürzer und kälter werden, verdunkelt sich mitunter auch die Stimmung. Denn der Herbst gemahnt auch an den Herbst des Lebens, an die eben noch blühende Pracht, die Blatt für Blatt verloren zu gehen droht. Die Herbstverstimmung wird noch verstärkt, wenn sich das gesamte Land im Krisenmodus befindet, wenn sich Klagen und ein lähmendes Gefühl der Ausweglosigkeit breitmachen.
Wir können in einer solchen Situation mit Rückzug, sozialer Abschottung, der Ausblendung der Probleme und mit dem verklärenden Blick in den Rückspiegel reagieren. Oder wir entwickeln eine mutmachende finale Zuversicht, die beherzt den Widrigkeiten trotzt und den Sprung in eine ungewisse Zukunft wagt. Solch eine finale Zuversicht beschreibt das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, das ich als Sinnbild für einen Aufbruch in Verbundenheit charakterisiere.
Etwas Besseres als den Tod findest du überall.
Anhand von vier Tierschicksalen schildert die Erzählung, dass es selbst dann, wenn die eigene Welt unterzugehen scheint, noch Wandlung und die Möglichkeit eines neuen Weges gibt. Gleich mehrfach wird im Märchen eine aktivierende Not beschrieben: Der entkräftete Esel soll vom Bauern aus dem Futter genommen werden. Der jagduntaugliche Hund soll totgeschlagen, die nur noch hinter dem Ofen sitzende Katze ersäuft werden, und der ausgediente Haushahn soll im Suppentopf landen. Diese gemeinsame Notlage schafft eine Aktivierung und eine neue Verbundenheit. „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ wird zum Motto einer Schicksalsgemeinschaft der vier ungleichen Gefährten.
Bremer Stadtmusikanten haben ein Ziel
Der Mut zum Aufbruch braucht jedoch auch eine Zielperspektive. Im Märchen ist es die Vorstellung, nach Bremen zu gehen und dort gemeinsam zu musizieren. Obwohl dieses Zielbild namensgebend für die vier Titelgestalten wurde, sind sie in Bremen nie angekommen. Das bedeutet: Es ist gar nicht entscheidend, ob man das Ziel tatsächlich erreicht – viel wichtiger ist es, ein Ziel vor Augen zu haben und sich auf den Weg zu machen.
Wer glaubt, perfekt und allmächtig zu sein, bleibt a-sozial.
Das Märchen zeigt auch, wie Verbundenheit entstehen und gelingen kann. Sie gründet sich erst einmal in einem Eingeständnis eigener Schwächen. Wer glaubt, perfekt und allmächtig zu sein, bleibt a-sozial. Erst, wer seine Unvollkommenheit annimmt und bereit ist, zu zeigen, dass er beschränkt, bekloppt oder – „op Kölsch“ – jeck ist, kann den anderen als Ergänzung und Erweiterung seiner selbst sehen.

Rheingold-Gründer Stephan Grünewald
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Das Märchen listet offen und ehrlich die Limitationen der vier Tiere auf, zeigt jedoch auch, welche Optionen ihnen in ihrem Handeln noch möglich sind: Der Esel hat zwar nicht mehr die Kraft, die Säcke zu tragen, aber er kann die Laute spielen. Der Hund kommt bei der Jagd zwar nicht mehr mit, aber er ist in der Lage, die Pauke zu schlagen. Die Zähne der Katze sind stumpf geworden, aber sie versteht sich auf die Nachtmusik. Und der Hahn kann nicht mehr lauthals krähen, verfügt aber noch über eine gute Stimme.
Größe durch Gemeinschaft
Verbundenheit braucht vor allem den Glauben, dass Gemeinschaft nicht den Verlust der Individualität bedeutet, sondern einen Gewinn an Größe, Erhabenheit und Stolz: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, die Gruppe ist mehr als die Addition ihrer Mitglieder. Denn: Im Zusammenwachsen wachsen die Einzelnen über sich hinaus.
Jeweils auf dem Rücken der anderen stehend, bilden die vier Tiere eine wirkungsvolle, durchsetzungsstarke Gestalt.
Die meisten Abbildungen zum Märchen von den Stadtmusikanten zeigen, wie die Tiere jeweils auf den Rücken der anderen stehen und so eine wirkungsvolle, durchsetzungsstarke Gestalt bilden, der es gelingt, mit vereinten Kräften eine Räuberbande aus einem Haus zu vertreiben und sich so – indem sie buchstäblich aufeinander bauen - bezahlbaren Wohnraum und eine neue Heimat zu sichern.
Wie krisenfest die Schicksalsgemeinschaft ist und wie sich gerade in der Not die persönlichen Stärken jedes Einzelnen zeigen, führt das Märchen am Ende aus: Ein Mitglied der Räuberbande, die die Tiere vertrieben hatten, dringt nachts in das neue Heim der Tiere ein und will es ihnen wieder streitig machen. Die Katze springt daraufhin dem Eindringling ins Gesicht, sie speit und kratzt. Der Hund beißt den Räuber ins Bein, der Esel verpasst ihm einen tüchtigen Tritt mit dem Hinterhuf, und der Hahn kräht aus Leibeskräften.
Wir können viel mehr, als wir uns zutrauen.
Diese Selbstwirksamkeit, die den persönlichen Stärken Rechnung trägt, wird in der heutigen Zeit viel zu wenig wahrgenommen. Man kann von einer gravierenden Könnensunterschätzung sprechen, die die Einzelnen und die Gesellschaft ausgebildet haben. Wir können aber viel mehr, als wir uns zutrauen. Unsere jüngere Geschichte ist voll von Beispielen, wie wir unser Land wieder aufgebaut haben, wie wir es reformiert und umgestaltet haben. Aber dieses Können zeigt sich oft erst in Krisenmomenten: In der Coronazeit ist es trotz Lockdown und Kontaktverbot gelungen, uns mit Putzen, Puzzeln und Werkeln selbst zu stabilisieren. In der Energiekrise konnten durch kollektive Anstrengungen 20 Prozent Energie eingespart werden. Die Flutkatastrophe an Ahr und Erft löste auch eine Welle der Hilfsbereitschaft aus.
Solches Können entfaltet sich, wenn wir - wie die Bremer Stadtmusikanten - bereit sind, uns von unwirtlichen Verhältnissen zu trennen; wenn wir den Mut haben, neue Wege zu beschreiten und unsere gestaute Bewegungsenergie zu kanalisieren.
Wenn wir also in der Krise auf die Kraft der Verbundenheit vertrauen und bereit sind, aufeinander zu bauen, finden wir allemal etwas Besseres als den Tod.
Buchpremiere in Köln
Grünewalds neues Buch „Wir Krisenakrobaten. Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft“ ist soeben im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.
Premiere in Köln hat es bei „frank & frei“, der Talkreihe des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in der Karl-Rahner-Akademie. Gastgeber Joachim Frank spricht mit Grünewald über dessen Zeit-Diagnosen: Welche Verhaltensmuster und inneren Haltungen entstehen in Zeiten des Umbruchs? Was verrät das über uns? Und wie kommen wir heute aus der Krise?
Donnerstag, 16. Oktober, um 19.30 Uhr, Karl-Rahner-Akademie, Jabachstraße 4-8, 50676 Köln.
Eintritt 14 Euro (KStA-Abocard 9 Euro). Anmeldung unter Tel. 0221/801078-0 oder online hier.