Bei Temu gibt es alles, und zwar günstig – auch einen Wutanfall. Redakteurin Vanessa Casper schreibt ganz persönlich, warum sie ihre On-Off-Beziehung mit dem chinesischen Online-Marktplatz beendet hat.
Online-Marktplatz aus ChinaTemu, das war’s mit uns Ich mache Schluss!

In Deutschland nutzen monatlich 16,3 Millionen Menschen die Temu-App. Es wirkt wie neue Ära von „Geiz ist geil“, findet -Autorin Vanessa Casper.
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Ich habe mich lange gewehrt. Jeder weiß ja schließlich, dass die Geschäftspraktiken von Temu fraglich, die Qualität der Produkte Glückssache und die weiten Transportwege nicht gerade umweltfreundlich sind. Mal ganz abgesehen vom schlechten Gewissen, das man bekommt, wenn in der Innenstadt oder dem eigenen Viertel ein Laden nach dem anderen schließt.
Und trotzdem muss ich sagen: Hi, mein Name ist Vanessa und ich habe bei Temu bestellt. Das erste Mal war es am 8. August 2023, nachdem ich die vermutlich 187. Werbeanzeige und den 253. Haul auf TikTok gesehen habe.
Letztendlich hat eine riesengroße, aufblasbare Blase, die man mit Wasser füllen konnte und auf der meine Nichten und Neffen sicher viel Spaß haben würden, den Ausschlag gegeben. Und, wenn man ohnehin schon bestellt, muss sich das natürlich auch lohnen, dachte ich mir.
Also landeten noch Schneidematten für meinen Hobbyplotter, Chiffongeschenkband, etliche Silikonformen und Glitzer für das Gießen mit Epoxidharz sowie ein viraler Eiswürfelbehälter für kleine, kugelrunde Eiswürfel im Warenkorb. Dank eines 20-Euro-Rabattgutscheins habe ich für 36 Produkte exakt 56,17 Euro bezahlt.
Es folgten zwei weitere Bestellungen, immer einige Monate dazwischen. Als großer Bastel- und DIY-Fan waren es meist Bastelmaterialien oder Organizer und Gadgets fürs Zuhause. Bestellung Nummer zwei erfolgte, weil ich beim Super-Schnäppchen-Angebot für einen der inzwischen schon ikonischen Stanley-Cups für 6,75 Euro nicht widerstehen konnte. Das Original kostet etwa 50 Euro und war zu dem Zeitpunkt in Deutschland eher selten zu finden.
Gefangen im Sog der Temu-Versuchung
Natürlich ist jeder frei in seiner Entscheidung, da zu bestellen, wo er möchte. Aber die Marketingstrateginnen und -strategen von Temu verstehen es sehr gut, mit den niederen Impulsen der Menschen zu spielen. Das wurde mir im Februar dieses Jahres bewusst.
Durch eine Werbeanzeige von Temu mit einer unfassbar niedlichen Silikonform für Gießmasse, die ich bisher noch nie gesehen hatte, war ich angefixt. Sie merken schon, Bastelmaterialien sind eine meiner größten Schwächen. Und was für ein Glück: Direkt nach dem Öffnen der App schleuderte mir Temu gleich eine Aktion mit Gratis-Guthaben entgegen.
90 Euro Guthaben gewonnen! Ganz sicher, ob ich bestellen wollte, war ich mir noch nicht. Erst mal nur gucken. Aber der Impuls übernahm die Kontrolle. Wenn ich eh bestelle, dann ruhig jetzt, sonst verschenke ich das Gratis-Guthaben doch, dachte ich. Als informierter Mensch bin ich mir natürlich darüber bewusst, dass es gerade bei solchen Plattformen meist einen Haken gibt, und wollte mir die Aktionsbedingungen näher durchlesen.
„Wie auf der Aktionsseite“ – was? Wie dort geschrieben steht, erhalten Sie eine Luxusjacht geschenkt? Einen Gratis-Apfel? Kaufen Sie eine Waschmaschine? Spenden Sie eine Niere? Oder gleich zwei? Verkaufen Sie Ihre Seele? Vollständige Hinweise waren Mangelware und auf der Regel-Seite auch nur bedingt zu verstehen, als wären sie mit Windows 2000 übersetzt worden.
Allein aus Neugierde, wie das jetzt funktionieren sollte und ob es tatsächlich mal Geschenke gibt oder man wieder nur aufs Glatteis geführt wird, machte ich mit meiner Bestellung weiter. Denn immerhin wusste ich ja, dass ich 280 Münzen benötigen würde. Nur wusste ich nicht, für welchen Einkaufswert ich welche Anzahl Münzen erhielt.
Es wurden 26 Artikel – größtenteils Stempel oder Stanzen – für 66,91 Euro. Die Bestellung brachte mir 260 Münzen ein.
Wie Temu mich sehr gern wissen ließ, war ich nur noch 20 Münzen vom 90-Euro-Guthaben entfernt. Mathe war nie meine Stärke, aber 260 Münzen bei einer Bestellung von 66 Euro, das macht knapp vier Münzen für einen Euro.
Also bestellte ich noch einmal. Schließlich wurde mir sehr deutlich vor Augen geführt, dass ich nur eine Chance habe. Nur auf dieser Seite. Immerhin nicht in Großbuchstaben verkündet. Noch ein bisschen Bastelkram für 10,52 Euro. Doch dann die Ernüchterung: Das hatte mir nur ein paar Münzen eingebracht. Noch eine Bestellung – aus Trotz, Neugierde, Wut, angestacheltem Ehrgeiz? Für 4,31 Euro kaufte ich noch einen Stempel, eine Halterung für den Rasierer meines Mannes und einen Pin mit einem Bumerang, auf dem das Wort Karma stand. Das Ziel von 280 Münzen hatte ich noch immer nicht erreicht, zog aber nun die Reißleine bei meinem kleinen Experiment.
Das war der Moment, an dem mir deutlich wurde, dass es zwischen Temu und mir nie eine erfüllende Beziehung geben würde. Müde von den falschen Versprechungen und Manipulationen, zog ich einen Schlussstrich. Ohne einen weiteren Gedanken an meine noch ausstehenden Bestellungen zu verschwenden, schloss ich die App.
Einige Wochen später musste ich fast schmunzeln, als ich einen Artikel mit der Überschrift „Verbraucherzentrale erwägt Klage gegen Online-Händler Temu“ las. Wegen unklarer Rabatt-Aktionen und Druckmitteln beim Bestellen. Das kam mir durchaus bekannt vor.
Erstes Wiedersehen nach der Trennung
Um diesen Artikel zu schreiben, musste ich die Temu-App erneut öffnen. Unser erster Kontakt seit Langem. Ich suchte alle Daten und Fakten aus der Bestellhistorie heraus, die ich brauchte. Aktuell habe ich ein Guthaben von 2,74 Euro, das ich noch einlösen kann. Und noch während ich die ersten Absätze für diesen Text schrieb, bekam ich eine Push-Mitteilung von Temu auf mein Handy.
Aktiviert? Das klingt ja so, als sei es meinem Konto bereits gutgeschrieben. Dem Verlangen, draufzudrücken, kann ich mit dem Argument der journalistischen Sorgfaltspflicht nachgehen.
Beim Hütchenspiel kann ich Temu-Guthaben erhalten, goldene Eier zerbrechen für ein Upgrade und bekomme für die erste Bestellung statt 30 Euro direkt 50 Euro geschenkt, aber nur, wenn ich innerhalb der nächsten zwei Stunden bestelle. Immerhin ist nach massiver Kritik aus der EU das Kleingedruckte größer und verständlicher geworden.
Dennoch fühle ich mich erneut enttäuscht. Und bestätigt in meiner Entscheidung, mich zu trennen. Denn wie heißt es so schön: Führst du mich einmal hinters Licht, Schande über dich. Führst du mich zweimal hinters Licht, Schande über mich.