„Die Weiblichkeit steckt im Dutt“Dieser tiefe Sinn steckt hinter der Trend-Frisur

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In einem Dutt sind die Symbole der Verführung gekämmt und gebändigt. Man macht jedoch deutlich, dass man ihn lösen kann – mit weitreichenden Folgen.

In einem Dutt sind die Symbole der Verführung gekämmt und gebändigt. Man macht jedoch deutlich, dass man ihn lösen kann – mit weitreichenden Folgen.

  • Was hat Kleidung mit Seelenheil zu tun und was ist die Botschaft von zerrissenen Jeans?
  • Soziologe Tilman Allert sagt: Im Dutt versteckte lange Haare sind Symbol der Verführung.
  • Im Gespräch verrät er, was das im Umkehrschluss für Liebesschlösser, Tattoos und den Thermomix bedeutet.

Köln – „Unser Auto ist wie eine Visitenkarte, mit der wir umherfahren. Es ist interessant zu beobachten, dass auf den Autokennzeichen nach der Städtebezeichnung meist die Initialen des Besitzers folgen. Dass wir die Innenausstattung des Autos als Bestandteil unserer privaten Lebensführung verstehen, wird an vielen Details deutlich. Auch deswegen fällt der Abschied vom Auto als Verkehrsmittel so schwer.“

Derjenige, der das und viele andere kleine und große Dinge des Alltags beobachtet, analysiert und kommentiert, ist der Soziologe Tilman Allert. „Ich gehe dem Sinn von Alltagshandlungen nach. Das ist der Fokus meiner Forschungen“, sagt Allert. Dafür deckt er die Bedeutung angeblicher Nebensächlichkeiten auf und versucht zu entschlüsseln, welche „Bedeutung sie für die Lebensführung eines jeden einzelnen Menschen in der Moderne haben“.

Auch zerrissene Jeans sagen viel über unsere Persönlichkeit aus.

Auch zerrissene Jeans sagen viel über unsere Persönlichkeit aus.

Das ist aufschlussreich und wohltuend, weil man sich und sein Tun in einem anderen Licht sieht. Und weil Tilman Allert die alltäglichen und lieb gewonnenen Normalitäten und Absonderlichkeiten weder verurteilt noch kulturkritisch an den Pranger stellt.

Zur Person

Professor Tilman Allert, geboren 1947, ist Soziologe an der Universität Frankfurt. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Bildungssoziologie und die Merkwürdigkeitsforschung.

Weiblichkeit aus dem Versteck holen

Wie zum Beispiel den Dutt beim Mann. Tilman Allert: „Das gibt dem Mann die Möglichkeit, seine Weiblichkeit, die bekanntlich jeder Mann in sich hat, aus dem Versteck zu holen.“ Ein Mann mit Dutt trägt sie nicht offensiv zur Schau, sondern „sie steckt im Dutt.“ Das macht den Mann nicht weniger männlich, denn der Dutt auf dem Kopf sendet Mehrdeutiges.

„Für einen Dutt braucht man lange Haare und die waren schon immer Symbol der Verführung und haben die Attraktivität der Person erhöht. Im Dutt habe ich diese Symbole gekämmt und gebändigt, aber ich mache für jeden sichtbar, dass es möglich ist, diesen Dutt mit all seinen Folgen zu lösen. Der Mann erhöht durch dieses Element der Weiblichkeit seine Attraktivität“, erklärt Allert. Vielleicht also sollten all jene, die ihre Haarpracht am liebsten wegrasieren bis auf ein paar Millimeter, noch einmal darüber nachdenken, wie man sich wirkungsvoller in Szene setzen könnte.

Auch zerrissene Hosen ein Symbol

Eine modisch gewordene Art, sich in Szene zu setzen, demonstrieren Träger von zerrissenen Jeans. Sie werden auch „destroyed Jeans“ genannt. Der Soziologe Allert erklärt: „Risse in den Jeans demonstrieren Verletzlichkeit, aber ob das tatsächlich der Fall ist, bleibt offen“.

Erscheinungen im Alltag und ihre Bedeutung

Stretch im Stoff

Mag sein, dass sich der eine oder andere die Stretch-Hose oder das Stretch-Jackett zulegt, weil der Stoff dem Träger nicht verübelt, wenn mal ein Pfündchen mehr zu bedecken ist. Das ist es aber nicht allein, was Stretch so begehrenswert macht. Der Soziologe Tilman Allert sagt: „Kleidung ist stets eine Verlängerung der Haut. Je enger die Kleidung anliegt, desto offensiver zeige ich meine leibliche Unversehrtheit und meine Sportlichkeit. Man öffnet den Blick seines Gegenübers auf den gesunden, leistungsfähigen, fitten Körper, der vor ihm steht.“

Lackierte Fingernägel

„Das monochrome Lackieren der Fingernägel, meist noch in derselben Farbe wie die Fußnägel, scheint passé. Das, was heute gemacht wird, nämlich die individuelle Gestaltung eines jeden einzelnen Nagels, wäre vor 30 Jahren extrem exzentrisch gewesen. Heute ist es normal.“ So erlangt man relativ preiswert „die Artikulation von Differenz“. Und damit einher geht, so deutet es Allert, „der immerwährende Versuch, sich als etwas Besonderes zu zeigen“. Wobei sich „jedes Milieu eine andere Definition sucht. Die einen machen es mittels Fingernagel-Kult, die anderen dokumentieren es durch aufwändige Reisen oder Einkäufe in den angesagten Modeorten dieser Welt. Wer reich ist, der kauft etwa seine Klamotten gern in Kairo“.

Liebesschlösser

Für Tilman Allert sind Liebesschlösser, die zu Tausenden an Brückengeländern hängen, „ein Zaubermittel des Alltags, um das Leben ein bisschen stimmiger zu gestalten“. Diejenigen, die sie dort installieren, „reagieren auf die empfundene Fragilität von Liebesbeziehungen. Wer heute verliebt ist, der ahnt, dass das Scheitern dieser Liebe durchaus möglich ist. Liebesschlösser, auf denen die Gemeinsamkeit eingraviert und gleichsam beschworen wird, kommunizieren diese Ahnung. Das ist heute aufgrund der fragilen Beziehungen durchaus verständlich. Ob es hilft, wissen die Götter.“

Tattoos, Piercings, Schmuck

Die flächendeckenden Bilder auf Armen, Händen, Rücken und Beinen, die durchstochenen Nasen, Zungen, Lippen und Bauchnabel haben für Tilman Allert einen tieferen Sinn: „Sie versehen die Person mit dem Versprechen auf ewige Dauer und erleichtern den Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit.“

Piercings setzt Allert mit Schmuck gleich, „der eine Steigerungsform des Piercings ist und die gleiche Bedeutung hat. Ein Piercing, das man sich in die Haut implantiert hat, ist Tag und Nacht bei mir. Es verspricht mir das Nicht-Verschwinden. Der normale Schmuck dient ebenfalls dazu, sich in einer längeren Lebensdauer zu wähnen, denn das Material symbolisiert Ewigkeit.“

Jeansträger früherer Jahre hatten ganz andere Ambitionen. Sie zeigten mit dem verwaschenen Kleidungsstück der Arbeiter, dass sie in der Welt angekommen – und somit handlungsfähig – sind. „Heute wird mit Jeans eine interessante Widersprüchlichkeit sichtbar, die unbewusste Botschaft, vorrangig an die Eltern: Ich bin nicht so perfekt, wie ihr denkt.

„Nun kommt der Trick des Unbewussten und der besagt: Wenn ihr mich aber darauf ansprecht und festlegen wollt, dann sage ich euch, es sind nur Jeans, das bin nicht ich. Das Kleidungsstück kommuniziert somit zweierlei, höchst Widersprüchliches: unvollkommen im Vollkommenen zu sein.“

Jugendlich mit Latte macchiato

Wobei eine Dimension hinzukommt. „Zumeist werden solche Hosen von denen getragen, die aus sehr guten und gut-bürgerlichen Lebensverhältnissen kommen. Kaputte Klamotten zu tragen demonstriert, sich entscheiden zu können zwischen guter und zerschlissener Kleidung und nicht etwa eine Not. Das ist eine Form von Hochmut gegenüber all denen, die diese Wahl nicht haben.“

Wobei „destroyed Jeans“ mittlerweile genauso gern von Erwachsenen getragen werden, die ihre eigene Botschaft senden. „Sich dem Jugendtrend anzupassen macht es Erwachsenen möglich, zu zeigen, wie jung sie noch sind. Erwachsene fantasieren sich gern zurück in die vergangene Lebensphase, etwa mit Hilfe solcher Kleidungsstücke. Das ist wie Latte macchiato trinken, eigentlich ein Getränk für Jugendliche, die sich dem Kaffee schon gewachsen zeigen, allerdings auf Milch nicht verzichten, die dem Leben im Elternhaus Tribut zollt. Auch mit diesem Getränk schlüpfen Erwachsene in die schöne Fantasie der Jugendlichkeit.“

Mit Rissen im Beinkleid und Milchschaum ist es für Tilman Allert aber noch nicht getan. „Das Jugendlichsein von Erwachsenen ist nicht selten vom Motiv unterlegt, Auseinandersetzungen mit den Kindern möglichst aus dem Weg zu gehen. Der Erwachsene spielt Jugendlichkeit vor, um die Generationenunterschiede nicht wirksam werden zu lassen.“

Widersprüche mit Technologie vermeiden

Allerts Soziologie macht sich zum liebevollen Anwalt unserer ganz normalen Exzentrik. Das lässt sich auch bei Menschen beobachten, die sich dem Siegeszug des Thermomix in der Küche angeschlossen haben. „Die Nutzer möchten etwas realisieren, das schwierig ist, nämlich exquisit kochen mit dem geringsten eigenen Aufwand. Eine Kombination, die eigentlich nicht machbar ist, denn Kochen ist und bleibt hohe Kunst. Ich muss kreativ sein und Zeit investieren fürs Kochen.“

Genau das aber wollen Thermomix-Liebhaber optimieren. Allert: „Mit dem Thermomix versuche ich die Quadratur des Kreises, nämlich Zeiteinsatz, zu vermeiden und trotzdem lecker zu essen. In meinen Alltag baue ich also eine Technologie ein, mit der ich versuche, Widersprüche zu beseitigen.“ Allert will das nicht verurteilen und nicht als Kulturkritik verstanden wissen, sondern er sagt: „Das ist einfach nur merkwürdig.“

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