PsychologeWelchen Beruf wir ergreifen, bestimmen diese eher zufälligen Faktoren

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Für die meisten Menschen ist bei der Berufswahl vor allem das ausschlaggebend, was sie nicht können. 

Die Entscheidung, welchen Beruf man ausüben möchte, fällt jungen Menschen selten leicht. Der Arbeitsmediziner und -Psychologe Prof. Dr. Michael Kastner beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, welche Faktoren letztlich zur Entscheidung führen. Im Interview erklärt er, warum für die meisten Menschen bei der Berufswahl nicht ausschlaggebend ist, was sie können, sondern, was sie nicht können.

Herr Professor Kastner, mehr als 800.000 junge Menschen stehen Jahr für Jahr nach dem Ende ihrer Schulzeit vor der Frage, womit sie in Zukunft ihr Geld verdienen wollen. Welchen Faktoren spielen bei der Berufswahl eine Rolle?

Professor Michael Kastner: Dazu habe ich bereits in den 1970er Jahren eine Studie durchgeführt und mehrere 100 Personen befragt, was ausschlaggebend war für ihre Berufswahl. Normalerweise denkt man ja, der Mensch entscheidet sich aus freiem Willen für einen bestimmten Beruf. Er schwankt zwischen mehreren Alternativen, die seinen Neigungen entsprechen, macht sich eventuell Listen und wägt die Vor- und Nachteile der einzelnen Berufe gegeneinander ab. Soll ich Musiker werden oder doch lieber Medizin studieren? Er weiß im Prinzip also, was er kann, und muss sich jetzt nur noch zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden.

Aber?

Diese „positiven Entscheidungen“ sind eher die Ausnahme als die Regel. Für die meisten Menschen ist bei der Berufswahl nicht ausschlaggebend, was sie können, sondern das, was sie nicht können. Den Numerus clausus schaffe ich nicht, daher kommen Medizin oder Psychologie schon einmal nicht infrage. Ich kann auch kein Blut sehen - ein weiterer Grund, nicht Arzt zu werden. Auf technischem Gebiet bin ich ebenfalls nicht gut. Folglich werde ich nicht Ingenieur, sondern studiere lieber Betriebswirtschaft.

So ehrenwert dieser Beruf auch ist - Sie werden keinen BWLer finden, der sich aus Berufung für dieses Studium entschieden hat. Seine Wahl hat rein pragmatische Gründe. Mit anderen Worten: Die Mehrzahl der Berufssuchenden trifft eine Negativauswahl und entscheidet sich letztendlich für den Beruf, der am Ende des Auswahlverfahrens übrigbleibt.

Viele junge Leute wissen vielleicht gar nicht, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Wie kommen sie dennoch an einen Beruf, den sie eventuell ein Leben lang ausüben?

Sie rutschen durch irgendwelche Zufälle, durch Freunde oder Bekannte, hinein und bleiben dabei. Solche Zufallsentscheidungen sind statistisch gesehen der zweithäufigste Fall bei der Berufswahl.

Welchen Anteil haben die Eltern, wenn sich der Nachwuchs dafür entscheidet, in ihre Fußstapfen zu treten?

Die Eltern spielen dabei eine ganz entscheidende Rolle. Gar nicht mal, weil sie sagen: Du musst das Gleiche studieren, was ich studiert habe, sondern weil die Kinder von klein auf mit dem beruflichen Umfeld der Eltern vertraut sind. In einem Ärztehaushalt wird häufig über medizinische Fragen gesprochen, also interessiert sich auch das Kind irgendwann dafür. Oder sie wachsen auf einem Bauernhof auf. Dann wissen sie, welche Anforderungen an einen Landwirt gestellt werden. Wenn die Eltern dann auch noch Vorbildcharakter haben, werden die Kinder ihnen erst recht nacheifern. Das war in meiner Familie nicht anders. Ich habe Philosophie, Psychologie und Medizin studiert. Prompt ist die eine Tochter Ärztin geworden, die andere Psychologin und Psychotherapeutin.

In welchen Berufszweigen folgt die nächste Generation besonders häufig dem Vorbild der Eltern?

Bei Ärzten, Ingenieuren und auch bei Musikern ist das oft der Fall. Denken Sie nur an die Familie Bach, die mehrere Generationen von Stadtmusikern, Organisten und Komponisten hervorgebracht hat. Was vermutlich daran liegt, dass die Kinder in einer Welt der Musik aufgewachsen sind. Das Lern- und Interessenumfeld, der eigene Erfahrungshorizont also, spielt wie gesagt eine entscheidende Rolle bei der Berufswahl, egal, ob man in eine Familie von Musikern, Landwirten oder Tüftlern hineingeboren wurde.

Gibt es so etwas wie Familiendruck, um die nächste Generation bei der Stange zu halten?

Wenn ich eine Firma besitze, möchte ich selbstverständlich, dass meine Kinder den Betrieb irgendwann übernehmen Also versuche ich, ihnen gegenüber entsprechend zu argumentieren, wenn die Berufswahl ansteht. Nicht nur zum Nutzen der Kinder, sondern auch zu meinem eigenen Gefallen und zum Nutzen der Firma. Natürlich entsteht dadurch ein gewisser sozialer Druck. Auch in der Landwirtschaft oder in einer Handwerksfirma erwarten die Eltern häufig, dass ein Sohn oder eine Tochter den Betrieb übernimmt. Wobei es durchaus attraktiv sein kann, das elterliche Unternehmen weiterzuführen, denn mit der Übernahme ist auch eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit verbunden: Ich muss mir nicht selber etwas erkämpfen, sondern kann mich ins gemachte Nest setzen.

Und was passiert, wenn die Eltern zu sehr auf die Fortsetzung der Familientradition pochen?

Wenn sie hohe Erwartungen haben, engen sie die nächste Generation ganz erheblich ein. Kinder lieben ihre Eltern und wollen einerseits deren Forderungen entsprechen. Andererseits entwickeln sie möglicherweise eine Reaktanz. Das bedeutet: Wenn meine Handlungsspielräume eingeschränkt werden und ich permanent das Gefühl habe, den elterlichen Erwartungen nicht gerecht zu werden, werde ich bockig und mache aus Protest das genaue Gegenteil von dem, was von mir verlangt wird. Ich werde vielleicht Straßenmusiker, statt die Firma zu übernehmen. Ein geschickter Elternteil sorgt also dafür, dass ein Kind nicht reaktant wird.

Und ein ungeschickter?

Der entwickelt eine Art Vorwurfshaltung, was Gift ist für die Eltern-Kind- Beziehung. Auf der einen Seite möchte das Kind den Wünschen der geliebten Eltern entsprechen, auf der anderen Seite seinen eigenen Weg gehen und eben nicht den Bauernhof auf dem platten Land übernehmen, sondern vielleicht Lehrer oder Lehrerin werden. Dieser innere Konflikt zerreißt es geradezu und muss irgendwann abgearbeitet werden, sonst wird er zu einer lebenslangen Belastung. Wenn das Kind den fordernden Elternteil dann auch noch bewundert, wird es erst recht kritisch.

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Welche Folgen kann das haben?

Das Kind wird kein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln, wenn ihm die Eltern ständig das Gefühl vermitteln, sie enttäuscht zu haben.

Trotzdem verweigern sich zunehmend mehr junge Menschen der familiären Tradition, zum Beispiel, wenn es um die Hofnachfolge geht. Ist diese Generation möglicherweise selbstbewusster als die vorangegangene?

Ich glaube, das ist weniger eine Frage des Selbstbewusstseins als der Optionalitäten, der Wahlmöglichkeiten also. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Früher wurde ich vielleicht auf dem Dorf groß, und in diesem Dorf gab es zwei hübsche Mädchen. Dann war ich froh, wenn ich eines davon für mich gewinnen und heiraten konnte. Ich hatte also zwei Möglichkeiten. Heute gehen Sie ins Internet und haben eine Million Chancen. Das gilt auch für den beruflichen Bereich. Durch die globalisierte Welt und durch die Medien sehen die jungen Leute, was alles möglich ist. Wir haben inzwischen rund 20.000 Studiengänge, das ist doch völlig irre. Es ist heute also sehr viel unwahrscheinlicher als früher, dass jemand in dem Umfeld bleibt, in dem er aufgewachsen ist, einfach, weil das Angebot dramatisch größer geworden ist.

Wenn sich ein junger Mensch dennoch für den Beruf eines Elternteils entscheidet, beide Generationen vielleicht sogar zusammenarbeiten – kann das ein Verhältnis auf Augenhöhe sein?

Aus Sicht des Elternteils bleibt Kind immer Kind. Ich kann 100 Jahre alt werden, dann bleibt mein 80-jähriger Sohn immer noch mein Kind. Aus der Sicht des Kindes sieht die Sache natürlich anders aus. Das strebt eine gleichberechtigte Partnerschaft an und will sich nicht ständig bevormunden lassen.

Wie kann man das hinbekommen?

Ein kluger Vater, eine kluge Mutter wird sich entsprechend verhalten und versuchen, eine freundschaftliche Beziehung auf Augenhöhe zu dem Kind herzustellen. Nach dem Motto: „Mein lieber Sohn, meine liebe Tochter, ich helfe dir. Wenn du die Firma übernimmst, unterstütze ich dich, so viel ich kann, und ziehe mich irgendwann immer weiter zurück. Dann kannst du das Ruder übernehmen, und ich fummele dir nicht mehr dazwischen.“ Das wäre die Idealvariante. Aber wenn der Senior immer der Besserwisser bleibt und den Sohn oder die Tochter klein hält, wird die Zusammenarbeit nicht gutgehen. Denn auch diese Dauerbevormundung kratzt am Selbstwertgefühl der nächsten Generation.

Wie lautet Ihr Rat?

Das gilt vor allem: Vertrauen haben und die Jungen machen lassen.  

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