FamilieDie Trauer um ein ungelebtesLeben

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Die Trauer bleibt: Waltraud Koch auf dem Grabfeld für totgeborene Kinder auf dem Kölner Nordfriedhof.

Die Trauer bleibt: Waltraud Koch auf dem Grabfeld für totgeborene Kinder auf dem Kölner Nordfriedhof.

Noch drei Wochen waren es bis zum errechneten Geburtstermin ihres ersten Sohnes, doch nun war das Kind in ihrem Bauch plötzlich so still. Mit gepackter Tasche fuhren Waltraud Koch und ihr Mann ins Krankenhaus, falls das Baby hätte geholt werden müssen. Doch die Diagnose war schlimmer als alle Befürchtungen: Die Ärzte hörten keine Herztöne mehr. Waltraud Kochs Sohn war gestorben, noch vor seiner Geburt. In der Nacht setzten die Wehen ein, gegen ein Uhr brachte die damals 40-Jährige ihr totes Kind zur Welt.

682 514 Kinder kamen 2008 in Deutschland lebend zur Welt. 2412 Kinder wurden im gleichen Jahr tot geboren, 133 696 Frauen wurden wegen Fehlgeburten in Kliniken betreut. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich die schmerzhafteste Erfahrung, die werdende Eltern machen können. Sie werden aus freudiger Erwartung, Hoffnungen und Zukunftsplänen in tiefste Traurigkeit gestürzt. Besonders die Mütter leiden unter Schuldgefühlen: Liegt es an mir, habe ich mich zu viel bewegt, etwas Falsches gegessen? Noch dazu stößt die Trauer der Eltern oft auf wenig Verständnis, weinen sie doch um jemanden, den niemand gekannt hat. Doch obwohl auch sie selbst ihr Kind kaum kennen lernen durften, währt ihre Trauer oft ein Leben lang.

Abschied nehmen

Waltraud Koch und ihr Mann konnten einige Tage nach der Geburt ins Krankenhaus zurückkehren. Über drei Stunden ließ man sie ungestört mit ihrem Sohn, während sie Abschied nahmen, versuchten, zu begreifen - damals keine Selbstverständlichkeit. Auch heute, nach acht Jahren, trauern sie. Ihr Sohn ist ihnen nah, ein Teil der Familie. An der Wand hängt sein Bild, an seinem Geburtstag gibt es Kuchen, bei Schulfeiern seines jüngeren Bruders muss Waltraud Koch immer daran denken, in welcher Klasse er jetzt wäre.

In der Medizin galt lang die Devise: Am besten, Mütter und Väter bekommen möglichst wenig mit von ihrem toten Kind. Statt einer Geburt gibt es einen Kaiserschnitt unter Narkose, und anschauen sollten sie ihr Baby erst recht nicht. Heute gehen Psychologen davon aus, dass die Bindung zwischen Eltern und Kind nicht erst ab der Geburt existiert. Totgeburten werden deshalb nur noch in Ausnahmefällen per Kaiserschnitt entbunden. „Für die Frauen ist das eine sehr, sehr schwierige Situation, das Kind normal auf die Welt bringen zu müssen, aber es ist körperlich weniger belastend - und es hilft, Abschied zu nehmen. Oft werden die Tage nach der Diagnose wie im Traum erlebt, erst der Geburtsprozess lässt die Frauen realisieren, dass das Kind verloren ist“, sagt Kristin Kroker. Die Psychologin betreut in der Ambulanz für trauernde Eltern am Universitätsklinikum Münster und in einem Internettherapieprogramm Eltern, die ihr Kind durch eine Fehl- oder Totgeburt oder einen medizinisch induzierten Schwangerschaftsabbruch verloren haben.

Die Schönheit erkennen

„Früher wurden totgeborene Kinder oft schnell unter einem Laken weggebracht“, sagt Ruth Hermanns, katholische Seelsorgerin St. Elisabeth-Krankenhaus Köln-Hohenlind. „Die Eltern entwickelten dann ganz schlimme Vorstellungen, wie ihr Kind ausgesehen haben könnte“ - viel schlimmer als jede Wirklichkeit. „Die Eltern müssen das Kind wenigstens einmal sehen und als Individuum wahrnehmen, seine Schönheit erkennen können“, sagt auch Ute Wolf, evangelische Seelsorgerin im Krankenhaus Porz am Rhein. Das Baby wird zudem fotografiert, seine Hand- und Fußabdrücke werden genommen. Die Eltern bekommen die Bilder in einer „Erinnerungsmappe“ - für sie auch eine Art Beweis dafür, dass dieses Kind existiert hat, ihre Trauer damit berechtigt ist.

Waltraud Koch hat nach dem Tod ihres ersten Sohnes die unterschiedlichsten Reaktionen erlebt. Während die einen tief schockiert waren, wurde ihr von anderen die Bemerkung zugetragen, das sei doch, angesichts ihres Alters, zu erwarten gewesen. Spätestens, als sie erneut schwanger wurde, hieß es: „Jetzt musst du ja nicht mehr traurig sein!“ Manche Freunde meldeten sich gar nicht mehr, „man hat dann wohl einen Makel“, meint Koch.

Ab wann wird ein Fötus als Kind eingeschätzt

Fehl- oder Totgeburten sind ein Tabu. „Viele Frauen, die zu uns kommen, sind völlig überrascht, wie vielen es so geht - weil niemand davon erzählt. Schwangerschaft ist ein positiv besetztes Thema, über negative Ausgänge spricht man nicht“, sagt Kristin Kroker. „Früher hieß es oft: Irgendwann hast du ein neues Kind, und dann ist es gut. Das ändert sich im Moment - die Eltern werden älter, viele brauchen mehrere Versuche, und die Trauer ist dann auch vor der 12. Woche schon sehr groß“, sagt Ruth Hermanns. Auch hier geht es letztlich um die Frage: Ab wann wird ein Fötus als Kind, als vollwertiger Mensch eingeschätzt?

Das Bestattungsrecht hatte darauf lange eine Antwort: Ab der 23. / 24. Schwangerschaftswoche beziehungsweise einem Gewicht von 500 Gramm. Föten, die jünger und leichter sind, mussten nicht bestattet werden. Die Eltern durften ihre Kinder zwar beerdigen. Das ging aber nur, wenn sich die Friedhofsverwaltung nicht weigerte, da diese laut Gesetz noch nicht als Personen gelten. Die Bestattungen waren zudem sehr teuer, da es für Fehlgeborene keine Grabstellen gab. Auch in Köln hat sich das erst durch die Initiative von betroffenen Eltern, Seelsorgern, Hebammen und Bestattern geändert.

Möglichkeit zur rituellen Verarbeitung

Heute müssen zumindest in NRW nach dem seit 2003 geltenden Bestattungsgesetz alle Fehl- und Totgeburten auf Friedhöfen bestattet werden. Entweder durch die Eltern selbst, sie können dies aber auch dem Krankenhaus überlassen, das dann die Kosten trägt. Die Kliniken organisieren meist mehrmals im Jahr ein Sammelbegräbnis. „Es muss eine Möglichkeit zur rituellen Verarbeitung geben, und die spirituelle Ressourcen sind größer, wenn ein Grab da ist“, sagt Ute Wolf.

Ein Bruder, kein Ersatz

Waltraud Koch konnte ihren Sohn würdig bestatten. Und doch: Der Rückweg in ein normales Leben schien für die Eltern lange fast unmöglich. Ihr Mann stürzte sich in Aktivität, während Waltraud Koch immer wieder Weinkrämpfe quälten und ihr jeder Antrieb fehlte. Als sie erneut schwanger wurde, war beiden klar: So kann es nicht weitergehen. „Wir wollten das andere Kind nicht belasten. Es sollte ein Geschwisterchen sein, kein Ersatz“, sagt Koch. Unterstützung fanden sie in der Selbsthilfegruppe der Kölner Initiative „Zu früh gestorben“: „Da habe ich erkannt, dass es vielen so geht wie uns, ich konnte frei reden, ich durfte weinen - das war sehr befreiend.“ Heute leitet Waltraud Koch die Gruppe - für sie ist hier der Ort, der nur ihrem toten Sohn gehört.

Auch nach 15 Monaten behandlungsbedürftige Belastungsreaktionen

In der Münsteraner Ambulanz werden trauernde Eltern behandelt wie Trauma-Patienten: Sie sollen sich möglichst detailliert mit dem Moment des Verlustes auseinander setzen. Dennoch: „Dass die Trauer lange dauert, und etwa am errechneten Geburtstermin oder dem Todestag des Kindes immer wieder aufflammt, ist nicht ungewöhnlich. Man arbeitet in vielen Fällen darauf hin, die Trauer so zu gestalten, dass sie das eigene Leben nicht dauerhaft beeinträchtigt“, sagt Kroker. Einer Untersuchung der Münsteraner Psychologen zufolge leidet ein großer Teil der Frauen unmittelbar nach der Geburt an behandlungsbedürftigen Belastungsreaktionen, auch nach 15 Monaten sei dieser Anteil noch relevant.

Selbst zwischen den betroffenen Partnern herrscht manchmal Unverständnis: „Männer und Frauen trauern oft sehr unterschiedlich. Männer wollen im ersten Moment oft stark sein, auch für ihre Frau. Das bedeutet aber nicht, dass sie weniger leiden“, sagt Psychologin Kroker. Seelsorgerin Ute Wolf beobachtet häufig „große Sprachlosigkeit. Die Eltern fühlen sich sehr einsam, weil sie das Gefühl haben, der Andere versteht die eigene Form der Trauer nicht.“ Wenn es die Partner aber schafften, miteinander zu sprechen, könne die Beziehung sogar tiefer werden.

Ein kleiner Sarg im Frühlingsregen

Wolf, die als Pfarrerin auch die Sammelbegräbnisse der Fehlgeborenen aus dem Krankenhaus Porz betreut, beobachtet bei ihren Besuchen auf dem Grabfeld, wie manche Gräber nach und nach verwildern, obwohl die Liegezeiten ohnehin nur bis zu fünf Jahre betragen. „Das zeigt, dass die Familien in anderer Form Tritt gefasst haben“, sagt Wolf. Es zeigt nicht unbedingt, dass die Trauer überwunden ist.

Auch Waltraud Koch kommt immer seltener dazu, das Grab ihres ersten Sohnes zu besuchen - der Job, der jüngere Sohn, die Betreuung der Gruppe füllen sie aus. Und doch: Wenn sie an die Beerdigung zurückdenkt, kämpft sie mit den Tränen, auch heute noch. Wie sie den kleinen Sarg ihres Sohnes im Frühlingsregen auf dem Friedhof zurücklassen muss, dieses Bild hat sich ihr eingebrannt: „Man lässt ein Stück von sich selbst da. Ein Kind zu verlieren, das verwindet man nie.“

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