Flora 6Feiern ohne Pause

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Allein in der Flora 6: Alfred mit einem letzten Absacker vor sich. (Bild: Grönert)

Allein in der Flora 6: Alfred mit einem letzten Absacker vor sich. (Bild: Grönert)

Nippes – Die „Flora 6“ nennt er seine „Herzensangelegenheit“, wahlweise auch sein „Büro“. Das Haus in Nippes wurde im Januar 1945 erbaut, damals lief es als Kasino. Ulde Wilde sagt, heute sei es das „billigste Lokal von Köln“. Das Kölsch kostet 1,10 Euro. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gibt es Rabatt: 0,80 Euro die Stange. Vielleicht finden sich deshalb schon am frühen Morgen neue Gäste hier ein. Oft bedient Ulde Wilde selbst am Tresen, das Lokal heißt bei ihm auch „mein Büro“. Samstags bringt ihm das Büro am meisten. „Es kommen Gäste, die Gott sei Dank noch Geld unter die Leute bringen. Leicht ist das ja in diesen Zeiten nicht.“

Wilde bezieht 213 Euro Rente, ist gelernter Dreher und Schlosser und war fast immer selbstständig. Er will arbeiten bis zum Lebensende, so lange, bis er umfällt, wie er sagt. „Wenn man einmal hinter der Theke gestanden und Spaß daran gefunden hat, hört man nicht mehr auf. Hinter der Theke in der Flora ist es wie auf einer Bühne. Man sieht und hört so viel aus dem Leben. Das ist viel mehr Realität als im Fernsehen.“ Ulde Wilde ist verheiratet, seine Frau 38 Jahre alt, sie hat am 6. 5. 2007 einen Sohn zur Welt gebracht. „Einen Frühstarter“, nennt Ulde Wilde ihn. Der Junge kann bereits FC Köln sagen. Im hinteren Bereich der Kneipe verharrt ein Geißbock in Lebensgröße auf einem Regal, unter ihm dudelt die Musikbox. Die Lichter, die Hennes umgarnen, blinken in regelmäßigen Abständen rot auf. Künstliche Geräusche gibt das Tier immerhin nicht von sich. Einen Meter entfernt von ihm stehen zwei Kühlschränke. Große Würste liegen darin. Und Frikadellen – grell beleuchtet.

Es ist sechs Uhr morgens, die Schuhe kleben ein wenig am Boden fest. Eine ältere Frau sitzt an der Theke, sie wird erzählen, dass sie in Nippes wohnt, auf der Neusser Straße, sie lebt allein mit zwei Katzen, ihren Namen möchte sie nicht verraten, auch wenn sie sich von uns fotografieren lässt. Was sie am Morgen um diese Zeit hier mache, wenn andere Menschen kurz davor sind aufzustehen, um zu frühstücken? „Mhhmmm“, sagt sie und schweigt für wenige Sekunden. „Man kennt sich hier untereinander. Die Flora 6 ist mein zweites Wohnzimmer. Heute bleibe ich länger, morgen ist schließlich Sonntag.“ Unter der Woche arbeite sie als Sekretärin, fügt sie hinzu und dreht sich weg. Ihre Hände zieren viele Ringe, ihr Haar wirkt wie frisch frisiert.

Ali lächelt. Auch wenn nicht alles so gut in seinem Leben laufe, wie er sagt. Aber auch nicht alles schlecht. Man lebe eben. Sein Zuhause heißt Bilderstöckchen und umfasst eine Ein-Zimmer-Wohnung. Sie ist 20 Quadratmeter groß. Ali ist 39 Jahre alt, geboren in der Türkei, eingebürgert, Vater von zwei Kindern, ein Junge, ein Mädchen, neun und zwölf Jahre alt, geschieden. „Wenn man frei ist, muss man suchen. Alleine kann man nicht alles schaffen. Die Flora 6 ist für mich wie ein Familienersatz. Ich bin immer für meine Kinder da, aber auch oft allein.“

Mit „halbem Herzen“, sagt er, ist er vor langer Zeit nach Deutschland gekommen. „Man muss sich hocharbeiten. Man muss nicht studiert sein, um es weiterzubringen.“ Einen Schulabschluss hat Ali nicht, er verdient sein Geld mit gärtnern, ist Vorarbeiter im Landschaftsbau. „Ich habe nie viel getrunken. Aber wenn man in Köln ist, rausgeht, fängt man schnell an. Ich hoffe, ich finde irgendwann wieder jemand Passenden. Von der Decke über der Theke leuchtet ein Deckenleuchter in Eiche rustikal. Die Birne ist trüb und taucht den Vorraum in ein bräunliches Licht, das Rauchschwaden durchwabern.

Alfred sitzt allein am Holztisch in der hinteren Ecke. Seine Augen sind ein wenig glasig, die Tapeten in seinem Rücken vergilbt. Die Schultern hängen tief, eine Kappe verdeckt das Haar. Alfred ist 45 Jahre alt. Vor ihm steht ein Glas Prosecco. „Das ist mein Absacker“, sagt er, und der Blick hinter der großen Brille stiert ins Leere. „Das hier ist eine Szenekneipe, hier.“ Er benutzt den Begriff der „kleinen Leute“. Hier fänden sie sich zusammen, hier verstehe man sich noch untereinander. Früher sei alles anders gewesen, aber das war einmal, meint er. „Ich bin sehr realistisch geworden.“ Er wohnt in der Nähe von Köln, sagt Alfred noch. Er ist Single. Immer wenn sich noch genug Geld auf seinem Konto findet, fährt er in die Flora 6. Dann sagt er nichts mehr. Mit einem Schluck leert er den Prosecco. Es ist kurz vor acht Uhr morgens. Draußen riecht es nach frischen Brötchen.

Flora 6 Florastraße 6 50733 Köln (Nippes) Öffnungszeiten:rund um die Uhr

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