Hauptschüler„Wir sind besser als unser Ruf“

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Lukas Elsner ist Schulsprecher und wird im Herbst auf ein Wirtschaftsgymnasium wechseln. (Bild: Grönert)

Lukas Elsner ist Schulsprecher und wird im Herbst auf ein Wirtschaftsgymnasium wechseln. (Bild: Grönert)

Der letzte richtige Schultag. Ein toller Tag für jeden Schüler. Oder nicht? „Scheiße ist das", sagt Soraia. Das hübsche Mädchen mit den langen dunklen Haaren schiebt den Mund zur Seite, zieht die Ärmel bis über die Finger, guckt auf den Tisch. Draußen vor dem Fenster steht der Wasserturm, das Luxushotel direkt gegenüber der Hauptschule am Großen Griechenmarkt. Der Himmel ist blau, noch zwei Tage bis zur Zeugnisvergabe, dann erst mal frei. Doch Soraia hat noch keinen Ausbildungsplatz. Bewerbungen zu schreiben hat sie fürs Erste aufgegeben. „Ich hab keinen Bock mehr, nur Absagen zu bekommen", sagt sie ein bisschen trotzig. Hier an ihrer Hauptschule hat sie sich wohlgefühlt, doch die Welt „danach" scheint unsicher. Eine Welt, in der sie auf einmal mit Realschülern konkurriert, in der der Chef nicht Pädagoge ist, sondern Geld verdienen will. Eine Welt, in der Hauptschüler oft schon von vornherein abgestempelt werden.

„Die sortieren einen ja direkt aus. Die gucken erst gar nicht auf die Noten", glaubt Nico. Der große sportliche Junge grüßt fröhlich auf dem Gang – mit dunkelbraunen Strahleaugen. Doch wenn er über seine Zukunft spricht, sackt er ein bisschen zusammen, lässt die Schultern hängen. Er hat den Realschulabschluss erreicht, den man auf jeder Hauptschule in NRW machen kann. Doch wie es mit ihm weitergehen wird, weiß auch er noch nicht. Für einen Ausbildungsplatz hat er sich nicht beworben. An mehreren Gesamtschulen hat er sich vorgestellt. Ob eine ihn nimmt, ist ungewiss.

Drei Monate zuvor. Soraia geht zügig durch die Gänge der Schule. Sie hat Pausenaufsicht. Alle Schüler sollen jetzt draußen auf dem Hof sein. Wer noch drinnen ist, den soll sie rausschicken. Die Flure des Backsteingebäudes sind sauber. Nirgendwo liegt auch nur eine Papiertüte. Aus einem Nebengebäude hört man ein Schlagzeug und Trompeten. An den Wänden hängen Fotos von der Karnevalssitzung, die jedes Jahr unter dem Kronleuchter in der Wolkenburg stattfindet. Auf dem Hof spielen Schüler Basketball, Fußball oder stehen in Gruppen zusammen. Die Bilder aus der Berliner Rütli-Schule, die als „schlimmste Schule Deutschlands" bekanntwurde, wo Lehrer vor gewalttätigen Schülern kapitulierten, haben mit diesem Schulhof nichts zu tun. Oder doch? „Es gibt hier fast nie Schlägereien", sagt Soraia. „Wir verstehen uns hier alle sehr gut."

Doch gegen den Ruf von Hauptschulen in Brennpunkten, die regelmäßig in den Schlagzeilen auftauchen, kommen gute Hauptschulen kaum an. Die Katholische Hauptschule Großer Griechenmarkt gilt als Vorzeigeschule. Als „Leuchtturm", wie es bei der Agentur für Arbeit heißt. Trotzdem haben zu diesem Zeitpunkt erst sechs der 25 Schüler in Soraias Klasse einen Ausbildungsplatz. In den Parallelklassen ist es nur jeweils einer.

„Gibt es gute Hauptschulen?"

Soraia lässt sich auf eine Bank im Foyer fallen. Nix los. Trotzdem muss sie weiter aufpassen. Sie will Arzthelferin werden. Schon seit sie klein ist – wie ihre große Schwester, die auch auf dieser Schule war. Ein Mädchen kommt auf sie zu. Soraia nimmt sie in den Arm. „Geht’s dir gut?", sagt sie und guckt ihr lange forschend in die Augen, streicht eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Man kann sich gut vorstellen, dass es beruhigt, wenn Soraia neben einem steht, wenn der Arzt mit der Spritze kommt. Ein Junge, der mit ihr Pausenaufsicht hat, erzählt von einem Besuch am Gymnasium. Stefan Lohmar wollte sich dort anmelden, weil er gute Noten hat, viele Einser auf dem Zeugnis. Er habe eine Abfuhr bekommen, weil er von der Hauptschule komme. „Das ist aber eine gute Hauptschule", habe sein Vater gesagt. Die Antwort des Direktors: „Gibt es gute Hauptschulen?" – Soraia macht die Augen weit. „Echt?", sagt sie. Zu Gymnasiasten und Realschülern hat sie keinen Kontakt. Nachmittags trifft sie sich meistens mit zwei Freundinnen aus der Schule, die wie sie in Kalk wohnen. Die Hauptschüler bleiben unter sich.

Stefan Lohmars Vater sitzt in einem kleinen Raum neben dem Sekretariat. Jede Woche kommt der Schulpflegschafts-Vorsitzende für die Elternsprechstunde hierher. Einige Eltern aus der Klasse seines Sohnes hat er in den fünf Jahren nie kennengelernt. Aber die, die kommen, seien sehr engagiert. Als es damals in der Grundschule darum ging, auf welche weiterführende Schule sein Sohn gehen sollte, hat der Schulleiter zu den Eltern gesagt: „Wenn Sie wollen, dass aus ihren Kindern im Leben etwas wird, sehen Sie zu, dass sie auf die Realschule oder aufs Gymnasium kommen." Da ist Michael Lohmar ihm ins Wort gefallen: „Ich war auch Hauptschüler. Heute bin ich Meister, habe einen Betrieb mit 40 Mann."

Erfolgsgeschichten von Hauptschülern liest man selten. Geschichten wie die von Alessandro Amato zum Beispiel, der nach seinem Abschluss eine Lehre bei Ferrari machen wird. Eigentlich hätte er für die Ausbildung zum Mechatroniker einen Realschulabschluss gebraucht. Doch der Schüler war beharrlich, stand immer wieder bei Ferrari auf der Matte – am Ende bekam er den Vertrag. Oder die von Lukas Elsner, der nach der Grundschule auch auf eine Realschule hätte gehen können. „Ich brauchte eine Schule, die ein bisschen Geborgenheit bot", sagt der Junge mit dem blonden Seitenscheitel. „Hier konnte ich mich viel besser entwickeln." Heute ist er Schulsprecher, wird im Herbst auf ein Wirtschaftsgymnasium gehen, um dort Abitur zu machen.

Turbulenter Alltag

Soraia sitzt pünktlich im Englischunterricht. Der Gruppentisch ist sonst noch leer, vor ihr liegt ein Arbeitsblatt. Sie soll Sätze einer englischen E-Mail in die richtige Reihenfolge bringen. Unruhe um sie herum. Ein Schüler in Lederjacke kommt zu spät. Er ist nicht der einzige. Die Lehrerin ermahnt ihn. Er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Zehn Minuten, Alter", sagt er nur und lässt sich auf den Platz gegenüber fallen. Er hat kein Heft dabei. Soraia reißt ein Blatt raus, schiebt es ihm rüber. Sie schreibt die Überschrift ordentlich auf die oberste Linie in ihrem Heft. Noch zwei Jungen trudeln ein. Das Arbeitsblatt ist schon zerknüddelt, als sie am Platz ankommen. Sie reden ganz normal weiter, lachen laut, fangen erst gar nicht an zu schreiben. Konzentration fällt da schwer.

„An der Hauptschule geht es eben auch mal turbulent zu", sagt die Klassenlehrerin Barbara Müller-Ballermann. Sie sagt es nicht mit einem resignierten Seufzen, sondern wie ein „Es gibt sie nun mal", die Kinder, die eine besondere Betreuung brauchen, die sich nicht lange konzentrieren können, die den Satz des Pythagoras nicht in einer Doppelstunde kapieren, deren Eltern gar nicht oder schlecht Deutsch sprechen, bei denen es zu Hause keine Bücher gibt. In jeder Jahrgangsstufe liest sie mit ihren Schülern eine kleine Lektüre. „Dann habt ihr am Ende wenigstens sechs kleine Taschenbücher zu Hause", sagt sie dann.

Nach dem Unterricht bleibt Nico in der Klasse. Die Klassenlehrerin zieht einen Stuhl heran, setzt sich ihm gegenüber. Der 16-Jährige, der jeden Tag aus Refrath kommt, ist eigentlich ein guter Schüler, aber in der letzten Zeit „hat er ein kleines Tief", sagt Barbara Müller-Ballermann. Vor kurzem ist Nicos Oma gestorben. Am Tag der Beerdigung hat er noch die Matheklausur geschrieben. Nico wollte das so. Aber dann konnte er sich nicht konzentrieren, konnte kaum eine Aufgabe lösen. Jetzt hofft er, die Klausur wiederholen zu dürfen. Nico erzählt von der Beerdigung, wie traurig das war. Die Lehrerin hört zu. Sie hat herzliche, interessierte Augen, eine warme Stimme, die im richtigen Moment bestimmt wird. Was Nico werden will, weiß er nicht so genau. Er hat sich noch nirgendwo beworben. Eine Eisdiele fände er „cool", schließlich habe er italienische Vorfahren, am liebsten aber wäre er Fußballer. Außerdem könnte er ja auch bei seinem Onkel in der Gärtnerei arbeiten, der darf aber nicht ausbilden, weil er kein Meister ist. „Aber vielleicht brauche ich ja auch gar keine Ausbildung", sagt Nico. Die Lehrerin zieht die Augenbrauen hoch.

Einsatz auch am Feiertag

„Diese gewisse Blauäugigkeit ist ganz typisch", sagt sie später. Das Thema Beruf beginne an der Hauptschule schon früh, stünde dauernd auf dem Lehrplan. Praktika ab der 8. Klasse, Berufskoordinatoren, immer wieder Bewerbungstraining. Am Ende bleibe trotzdem häufig eine Orientierungslosigkeit. „Das sind ja auch noch Kinder", sagt Barbara Müller-Ballermann. Ihre Schüler bräuchten persönliche Ansprache, jemand, der immer hinterher ist, der sie an der Hand nimmt, immer wieder nachhakt. Etwas, was in einigen Elternhäusern fehle. „Da, wo die Eltern dahinter sind, da klappt das auch meist mit der Ausbildung", sagt sie. Zwei notorische Schulschwänzer hatte sie in ihrer Klasse. „Da war ich ganz ängstlich, dass die den Abschluss nicht schaffen." Telefonisch konnte sie die Eltern nicht erreichen, ist schließlich einfach zu ihnen nach Hause gefahren – am Feiertag. Jetzt werden alle ihren Abschluss schaffen.

Doch viele Arbeitgeber werden ihnen erst gar keine Chance geben. Die Bundesärztekammer will keine Hauptschüler als Krankenpfleger – trotz steigenden Mangels an Fachkräften. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) vermeldet, ein großer Teil der Schüler sei nicht ausbildungsfähig. Laut Bildungsbericht der Kultusminister warten 40 Prozent der Hauptschüler auch zweieinhalb Jahre nach ihrem Abschluss noch immer auf eine Ausbildungsstelle. Im Vergleich: Jeder zweite Realschüler findet bereits drei Monate nach Schulende eine Lehrstelle.

Für Soraia hat Barbara Müller-Ballermann heute gute Nachrichten. Eine Englischlehrerin war vor ein paar Tagen beim Zahnarzt und hat erfahren, dass er eine Auszubildende sucht. So werden auch die Lehrer zu Jobvermittlern. Soraia sitzt im Arbeitszimmer ihrer Klassenlehrerin, erzählt von einem Vorstellungsgespräch in einer Arztpraxis. „Da hatte ich schon ein bisschen Angst", sagt sie. „Ich kannte die ja nicht." Die 16-Jährige ist gut in Mathe, kann sich gut Zahlen merken, kennt die Geburtstage aller Familienmitglieder ihrer Lehrerin. Ihre Familie stammt aus Portugal. Ihre Mutter spricht kaum Deutsch. Wenn sie zum Elternsprechtag kommt, muss sie jemanden mitbringen, der übersetzt. „Ich bin ja froh, wenn ein Dolmetscher da ist", sagt Barbara Müller-Ballermann. Es gebe auch Eltern, die kommen, verstehen aber gar nichts. Nach der Grundschule war Soraia zunächst auf der Realschule. „Da waren aber nur Streber", sagt sie. Auf der Hauptschule am Griechenmarkt fühlt sie sich wohl. „Ich werde die Schule vermissen. Die Leute und die Frau Müller-Ballermann", sagt sie und presst die Lippen aufeinander. Zwei warme Blicke treffen sich über dem Schreibtisch. „Ja, wir haben uns alle ins Herz geschlossen", sagt die Lehrerin.

25 Prozent bleiben ohne LehrstelleEs ist Juni. Schulleiter Manfred Lebeck ist mit der Quote seiner Abschlussklassen nicht zufrieden. 25 Prozent haben eine Lehrstelle gefunden. „Aber wir sind ja noch nicht am Ende", sagt er. In den Sommerferien könne sich noch einiges tun. Der Mann mit der Jeans und dem Karohemd hat für jeden Schüler auf dem Gang einen lockeren Spruch auf Lager. Er ist einer, den man sich auch als Fußballtrainer oder als Leiter eines Ferienzeltlagers vorstellen könnte.

Auch aus anderen Gründen kann er noch nicht an Ferien denken. Vor kurzem wurde bekannt, dass zehn Kölner Hauptschulen wegen mangelnder Anmeldungen schließen werden – zwei nach den Sommerferien, die anderen im Verlauf der nächsten drei Jahre. Seitdem stehen ständig Schüler und Eltern vor seiner Tür, die sich nach einer anderen Schule umsehen wollen. Trotz der bevorstehenden Umverteilung sind ihm gerade erst Lehrerstellen gestrichen worden.

Immer weniger Hauptschüler

Die Hauptschule – sowieso ein Auslaufmodell, sagen Kritiker, die sie ganz abschaffen wollen. Zu sehr sei ihr Name Etikett geworden, der jungen Menschen den Stempel der „Restschule" aufdrücke, an der sich Kinder aus Problemfamilien sammeln und gegenseitig runterzögen. Die Zahl der Hauptschüler wird auch in den kommenden Jahren weiter sinken. Das liegt am demografischen Wandel, aber auch daran, dass viele Eltern ihre Kinder lieber mit Nachhilfe durch die Realschule drücken, als sie auf einer Hauptschule anzumelden. Laut einer Umfrage der Stadt Köln geben nur ein Prozent der Eltern von Drittklässlern die Hauptschule als Wunschschule an. Der Ruf nach einer Zusammenlegung von Real- und Hauptschulen, einer Mittelschule oder Regionalschule wird immer lauter.

Manfred Lebeck ist solchen Ideen gegenüber offen, weiß aber auch, dass dafür Konzepte hermüssen, die man nicht mal eben – holterdipolter – auf die Beine stellt. „Bei uns geht es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern wesentlich um Erziehungsaufgaben", sagt er. Das sei es, was die Hauptschule von anderen Schulformen unterscheide. Natürlich gebe es hier schwierige Schüler. „Aber wir tun auch etwas dafür, dass wir hier ein gutes Klima haben." Nicht nur, indem man darüber spreche, sondern auch mit Verhaltenstraining, Rollenspielen – auch wenn dafür mal ein paar Hauptfächer ausfallen müssen. Manfred Lebeck mag keine Statistik. Schließlich ginge es hier nicht um Produktionszahlen, sondern um Menschen. „Aber wenn es eine Statistik über Schlägereien gäbe, würden wir sicherlich nicht schlechter dastehen als das ein oder andere Gymnasium."

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