„Essstörung, suizidale Krise“Kölner Psychologin sieht Corona-Folgen bei Jugendlichen

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Viele Kinder und Jugendliche leiden in der Corona-Zeit an psychischen Problemen.

Viele Kinder und Jugendliche leiden in der Corona-Zeit an psychischen Problemen.

Frau Doktor Krischer, registrieren Sie als Psychotherapeutin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie einen Anstieg von Fällen, die auf die psychischen Folgen der Corona-Krise zurückzuführen sind? Maya Krischer: Es ist nicht immer ganz einfach zu unterscheiden, was die Hintergründe sind. Aber wenn ich Revue passieren lasse, wie viele Eltern ihre Kinder bei uns vorstellen und dies mit Veränderung seit dem ersten Lockdown begründen, dann würde ich sagen, dass es sich um eine sehr große Zahl handelt. Inwiefern das tatsächlich zur Gänze auf die Corona-Krise zurückzuführen ist, oder ob es nicht schon vorher eine Vulnerabilität gab, ist nicht immer einfach zu klären.

Gibt es spezifische Krankheitsbilder?

Wir sehen einen deutlichen Anstieg der Essstörungen, die stationär behandelt werden müssen, wir verzeichnen einen Anstieg der krisenhaften stationären Behandlungen – beispielweise wegen suizidaler Krisen, es gibt einen Anstieg bei den Depressionen, wobei auch hier nicht immer ganz genau verifizierbar ist, ob dies auf die Corona-Krise zurückzuführen ist oder jetzt etwas herausdrängt, was zuvor bereits vorhanden war. Aber ich kann nur sagen: Das Haus ist voll.

Maya Krischer

Maya Krischer

Maya Krischer

Maya Krischer ist Psychotherapeutin und arbeitet an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uni-Klinik Köln.

Von welcher Altersgruppen reden wir genau?

Es sind eher die Jugendlichen, die krisenhaft stationär behandelt werden müssen, wobei wir auch dabei einen Altersrückgang beobachten. Früher waren Jugendliche, deren Zustand sich krisenhaft zuspitzte, in einem Alter von 13, 14 Jahren an aufwärts bis 18 – nun betrifft das bereits Elf- bis Zwölfjährige, die auch schon suizidale Entwicklungen und Zuspitzungen zeigen. Auch dies, so muss ich einschränkend sagen, ist eine Entwicklung, die wir bereits länger verzeichnen. Hier benötigen wir Studien. Aber seit den Lockdowns der vergangenen Jahre können wir klar sagen, dass wir eine lange Warteliste für ambulante Behandlungen, aber auch eine starke Zunahme an Anfragen für stationäre Behandlungen haben.

Was belastet die Jugendlichen am meisten? Sind es die mangelnden Kontakte, die Schulschließungen?

Das alles hängt miteinander zusammen. Die fehlenden Kontakte, die zerstörte Alltagsstruktur, das greift ineinander. Hinzu kommt die Zunahme an Medienkonsum – was sollen die Kinder und Jugendlichen in einer solchen Situation auch sonst anstellen? Ein solches Verhalten ist auch als Beziehungsersatz zu verstehen. Zwanghaftes Essverhalten lässt sich auch verstehen als ein Ausdruck, eine innere Sicherheit im Kontrast zu unsicheren Rahmenbedingungen herzustellen.

Es handelt sich doch auch um ein Alter, in dem man normalerweise prägende Erfahrungen macht – erste Liebesbeziehungen, Feiern, die Loslösung vom Elternhaus.

Aus klinisch-therapeutischer Erfahrung heraus sieht man gerade bei diesen Jugendlichen und jungen Heranwachsenden zwischen 16 bis zu 20 Jahren, wie es zu einem regelrechten Stillstand in der Entwicklung kommt – weil sie bestimmte Erfahrungen eben nicht haben machen können. Da kommt es zu einer Zunahme an Verunsicherung und Depressivität, die damit klar einhergeht. Viele kehren auch nicht wieder in die Schule zurück, nachdem es so lange Unterrichtspausen gab.

Spielen an diesem Punkt auch soziale Unterschiede hinein? Haben Kinder und Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen größere Probleme, zum Beispiel in den schulischen Alltag zurückzufinden, als solche aus stabileren Verhältnissen?

Das kann durchaus der Fall sein, doch wenn Sie mich nach meiner klinischen Erfahrung fragen, würde ich sagen, dass solche Probleme querbeet auftreten. Das geht durch alle Gesellschaftsschichten. Aber wenn man dies wissenschaftlich beforschen würde, könnte viel dafür sprechen, dass die Probleme in einem sozial schwierigen Umfeld massiver auftreten, weil die Alltagsstruktur in engen Wohn- und Lebensverhältnissen noch einmal schwerer aufrecht zu erhalten ist. Aber man kann es gar nicht so eindeutig formulieren: Jugendliche mit Essstörungen zum Beispiel stammen auch häufig aus gutsituierten Verhältnissen.

Sie sprechen von einem Stillstand in der Entwicklung – hat dieser Konsequenzen für den weiteren Lebensverlauf? Kommt es zu einer Art permanenter Verzögerung?

Das kann man tatsächlich noch nicht absehen, dafür ist die Zeitspanne zu kurz. Die psychische Flexibilität von Kindern und Jugendlichen erwartend, könnte man damit rechnen, dass viele diesen Stillstand wieder ausgleichen. Genauso kann ich mir aber vorstellen, dass einige das nicht mehr aufholen.

Es gibt eine aktuelle Studie vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, deren Autorinnen und Autoren den Begriff der Traumatisierung verwenden. Ist dieser Ihrer Ansicht nach angebracht?

Es ist sicher nicht völlig falsch, diesen Begriff zu verwenden. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass ein Trauma ein ausgestanztes Ereignis darstellt, eine Belastungserfahrung, die kaum zu verarbeiten ist – diese Definition passt nicht ganz zu einer Pandemie. Gefühle der Ohnmacht und Verunsicherung aber – wie lange dauert die Pandemie an, wie weit sind Personen in meinem Umfeld betroffen oder gefährdet? -, solche Erfahrungen kommen dann doch wieder einer schweren Belastungssituation nahe, auch durch Bilder wie die aus Italien. Vor allem für diejenigen mit wenig Widerstandskraft ist eine solche Situation schwer auszuhalten.

Sie haben sich auch mit der Flutkatastrophe in diesem Sommer beschäftigt. Diese kam zur Pandemie noch hinzu. Bei dieser Addition von schockhaften Ereignissen kann es leicht zu Weltuntergangsstimmung kommen.

Vielleicht ist der Begriff zu groß, aber zumindest eine schwere Verunsicherung, was Umwelt und Außenwelt betrifft, hat um sich gegriffen. Die Flutkatastrophe erfüllte alle Bedingungen für ein klassisches Traumaereignis. Aber es ist wahr: Es hat sich vieles in den vergangenen anderthalb, fast zwei Jahren summiert, was uns auch in psychischer Hinsicht dauerhaft im Griff hält.

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Wie erleben Sie selbst die Situation? Sie selbst sind ebenso stärker belastet, wenn es mehr Patientinnen und Patienten gibt, die Ihre Hilfe suchen.

Natürlich gibt es die quantitative Belastung, aber vor allem sind die therapeutischen Bedingungen erschwert: Wir arbeiten psychotherapeutisch und psychiatrisch konstant mit Maske, ich halte damit auch Vorträge, und natürlich strengt die FFP2-Maske an. Die andere Seite aber besteht in der therapeutischen Schwierigkeit, Sitzungen, auch Erstgespräche hinter Masken abzuhalten. Auch Gruppentherapie hinter Masken bedeutet, erhebliche Einschränkungen hinzunehmen. Und all das, da haben Sie recht, belastet uns.

Haben Sie den Eindruck, dass man mit dem herkömmlichen Repertoire an Therapiemethoden auskommt, oder zwingt die jetzige Situation dazu, neue Wege zu gehen?

Wir gehen bereits viele neue Wege, die sich viele von uns nicht vorstellen konnten – Videotherapie zum Beispiel, Elterngespräche, Erstgespräche, Anamnese per Video, das wäre vorher nicht denkbar gewesen. Wir haben darüber nachgedacht, Masken mit einem Sichtfeld zu nutzen, so dass die Mimik therapeutisch ausgewertet werden kann.

Seit dieser Woche läuft wieder Schulunterricht in Nordrhein-Westfalen. Ist Präsenzunterricht die beste Methode?

Gerade für die kleineren Kinder ist das ganz bestimmt die beste Unterrichtsform – bei den älteren Kindern und Jugendlichen, die Online-Unterricht auch inhaltlich besser füllen können, ist Distanz eher denkbar. Aber insgesamt würde ich klar bejahen, dass der Präsenzunterricht die beste Form des Unterrichts darstellt.

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