Tatjana Ohm„Kind, die Mauer ist auf!”

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Für Tatjana Ohm war die Mauer lange Zeit ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. (Bild: Worring/ AV)

Für Tatjana Ohm war die Mauer lange Zeit ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. (Bild: Worring/ AV)

Der 9. November 1989 war mein 20. Geburtstag. Es war ein Donnerstag, also mitten in der Woche, und ich wollte nicht groß feiern, weil ich am nächsten Morgen früh raus musste. Ich hatte zwei Monate zuvor eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau begonnen. Außerdem waren meine Eltern nicht zu Hause, ich war allein mit meinem jüngeren Bruder. Sie sollten in dieser Nacht von einer Reise aus dem damaligen Jugoslawien nach Berlin zurückkommen. Meine Mutter ist Bosnierin, mein Vater Deutscher.

Gegen 22 Uhr läutete das Telefon. Meine Großmutter war dran, total durcheinander, und stammelte: „Kind, Kind, die Mauer ist auf!“ Ich hatte sie spontan in Verdacht, dass sie ein bisschen was getrunken hatte, vielleicht auch ein bisschen zu viel, und ich versuchte, sie zu beruhigen und ins Bett zu lotsen. Sie aber war total aufgelöst und redete immer weiter von Mauer und Mauerfall. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und legte schließlich den Hörer auf. Im Nachhinein verstehe ich ihre Aufregung natürlich. Ihre gesamte Familie, ihre Brüder, Nichten und Neffen lebten in Bad Sülze in der DDR, und die Aussicht, dass die Mauer gefallen sein könnte, muss unglaubliche Emotionen bei ihr ausgelöst haben.

Irgendwann in der Nacht kamen meine Eltern aus Sarajevo zurück, platt von der langen Reise. Wir wechselten schnell ein paar Worte und gingen bald darauf ins Bett. Meine Mutter guckte noch Nachrichten im Fernsehen. Anschließend kam sie zu mir ins Zimmer und sagte leicht verwundert: „Irgendetwas muss passiert sein. Der Schabowski hat wohl was von Reisefreiheit gesagt.“ Mich interessierte das mit meinen 20 Jahren nicht sonderlich; ich war damals politisch noch nicht so interessiert wie heute. Ich brummelte also nur: „Ja, ja“ und drehte mich auf die andere Seite.

Am nächsten Morgen erzählte mein Vater, er habe gehört die Mauer sei gefallen. Für ihn war das eine hochemotionale Angelegenheit, eben weil große Teile unserer Familie in der DDR lebten. Dennoch schalteten wir an diesem Morgen nicht sofort und rätselten eine Weile herum, was genau das wohl zu bedeuten habe: Die Mauer ist gefallen.

Spätestens auf dem Weg zu meiner damaligen Arbeitsstätte, einem Reisebüro in Neukölln, wusste ich es: Die Straßen waren voll. Berlin war das reinste Irrenhaus!

Das Reisebüro, in dem ich arbeitete, lag in der Karl-Marx-Straße in der Nähe des damaligen Grenzübergangs Sonnenallee. Schon um zehn Uhr morgens war kein normales Arbeiten mehr möglich; die Leute überrannten uns regelrecht. Mein Chef hatte mich und einen weiteren Azubi an der Tür postiert. Die Parole lautete: „Alles raus, gebt alles raus! Was immer sie wollen, gebt es ihnen.“ Es herrschte eine ganz eigentümliche Stimmung an diesem Tag. Vor allem die älteren Ostberliner versuchten zu eruieren, ob diese neue Freiheit von Dauer war oder nicht.

Räumlich gesehen war mir die DDR während meiner Kindheit und Jugend stets sehr nahe gewesen. Wir sind 1976 nach Berlin-Buckow gezogen, in ein Neubaugebiet von der Neuen Heimat. Die Mauer war keine 50 Meter von unserem Haus entfernt. Wir wohnten im sechsten Stock und konnten direkt auf sie heruntergucken. Ich habe die Mauer jedoch nie als Bedrohung empfunden. Sie war vielmehr ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens. Als Kinder haben wir neben ihr gespielt. Wenn wir zur nächsten U-Bahn-Station wollten, mussten wir am Mauerstreifen entlang gehen. Sie war einfach immer da. Ich erinnere mich noch, dass wir Nachbarskinder einmal versuchten, einen Tunnel unter der Mauer hindurch zu graben. Wir wollten auf die andere Seite. Die Erwachsenen haben uns schnell davon abgehalten, denn es war klar, dass dieses Vorhaben nicht gut enden konnte.

Es gab in Westberlin U-Bahnlinien, die streckenweise durch den damaligen Osten fuhren, aber an den Stationen nicht anhielten. Die U-Bahn fuhr langsamer, es war dunkel, aber sie hielt nicht an. Wenn ich heute mit dieser Linie fahre und der Zug stoppt an allen Stationen, dann denke ich gelegentlich: So, jetzt hält er hier! Und jetzt ist das Licht an!

Ich freute mich damals vor allem darüber, meine Cousins und Kusinen aus dem Osten wiederzusehen. Die beiden Brüder meiner Großmutter bekamen ab und zu eine Ausreisegenehmigung in den Westen. Das waren immer Sonntage, wenn sie zu Besuch kamen. Wir sind mit ihnen überall in West-Berlin herumgefahren, um ihnen so viel wie möglich von der Stadt zu zeigen. Ganz wichtig war auch das Einkaufen: Kaffee natürlich. Die Tanten schätzten außerdem bestimmte Schokoladensorten, die besorgt werden mussten.

Die Jüngeren durften nicht in den Westen reisen, aber wir besuchten sie oft in Bad Sülze. Auch das waren Freudentage. Meist kamen wir zu Familienfesten zusammen: Ein Onkel feierte einen runden Geburtstag, oder ein Cousin heiratete. Es waren großartige Ereignisse, aber ich glaube nicht, dass wir dabei den DDR-Alltag kennen gelernt haben. Wir bekamen immer nur die Zuckergussseite zu sehen. Dennoch habe ich diese Besuche genossen. Das einzige, was ich merkwürdig fand, war dieses Grau. Die DDR war für mich immer ein graues Land. Nach dem Mauerfall konnte ich beobachten, wie Ost-Berlin von Monat zu Monat bunter wurde. Erst kamen die Reklameschilder, dann wurden die ersten Häuser saniert. Für mich hatte der Wandel in erster Linie einen ästhetischen Aspekt. Auf einmal kam Farbe in das Land.

Meinen Cousins und Kusinen habe ich zu verdanken, dass ich über eine ansehnliche Sammlung von Schallplatten mit DDR-Musik verfüge. Ich besitze Platten von den Phudys, von Karat und Ute Freudenberg. Und: Ich habe Bekanntschaft gemacht mit den Comics von den Abrafaxen! Wir im Westen kannten in der Regel nur Asterix und Obelix, Fix und Foxy und die Micky Maus. Ich durfte die Abrafaxe kennenlernen.

Für mich hat sich durch den Mauerfall relativ wenig verändert. Das einschneidende Erlebnis meines Lebens war 1992 der Bosnienkrieg. Meine Eltern und ich waren damals in einem bosnischen Verein engagiert und gehörten zu denjenigen, die in Berlin die ersten Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet in Empfang nahmen. Es war ein Riesenauftrieb; aus ganz Europa waren TV-Teams angereist, um die Ankunft der Flüchtlinge zu filmen. Da ich Englisch, Deutsch, Französisch und Bosnisch spreche, wurde ich häufig als Dolmetscherin eingesetzt, und irgendwann sagte jemand zu mir: „Mädchen, Du musst zum Fernsehen.“ Ich hielt das erst für eine blöde Anmache, aber dann wurde mir ein Praktikum bei RTL angeboten, und einen knappen Monat später war ich bereits auf dem Weg nach Bosnien, um vor Ort zu berichten. Seitdem bin ich beim Fernsehen.

In den ersten Jahren meiner journalistischen Tätigkeit war ich oft in den neuen Bundesländern unterwegs. Anfangs hatte ich das Gefühl, dass die Menschen in der ehemaligen DDR sich sehr verloren fühlten. Ich kann das gut nachvollziehen. Alles, worauf Du gebaut hast, ist auf einmal weg. Und Dir wird vermittelt, es sei ohnehin nichts wert gewesen. Inzwischen beobachte ich im Osten ein neues Selbstbewusstsein. Man ist stolz auf das, was man erreicht hat, und akzeptiert die Vergangenheit als wichtige Erfahrung und Teil der eigenen Biografie.

In Berlin gibt es nach wie vor eine Trennung in den Ost- und den Westteil, was ich sehr traurig finde. Für viele Westberliner ist der Alexanderplatz eine komplett andere Welt, von Hellersdorf, Marzahn und Lichtenberg ganz zu schweigen. Es ist so, als ob diese Viertel für sie nach wie vor nicht existierten. Ebenso leben in einigen Stadtteilen von Ostberlin Menschen, für die Westberlin keinerlei Reiz mehr hat.

Dennoch glaube ich, dass die Einheit gelungen ist. Allein die Tatsache, dass wir sie haben und es wieder ein vereintes Deutschland gibt! Die Vorteile liegen auf der Hand: der Wegfall der früheren Repressalien. Die Freiheiten, die die Menschen im Osten heute genießen. Sie haben die Wahl, wie und wo sie leben wollen. Die hatten sie vor dem Mauerfall nicht.

Mein einziger Einwand: Die Wiedervereinigung ist vielleicht ein bisschen zu schnell gegangen. Bisweilen trug sie Züge eines technokratischen Prozesses, während die emotionale Befindlichkeit der Menschen im Osten zu wenig berücksichtigt wurde. Man hätte langsamer und behutsamer vorgehen können. Ich wünsche diesem Land daher mehr von der Solidarität, die es in der Zeit der Oderflut 2002 gezeigt hat. Damals hat der Westen den Not leidenden Menschen im Osten ohne jeden Hintergedanken geholfen, und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, ja, wir sind ein Land. Wir sind zusammengewachsen.

Aufgezeichnet von Petra Pluwatsch

Am 24. August erscheint im DuMont Verlag das Buch zur Serie: Alfred Neven DuMont (Hrsg.), "Mein 9. November. Der Tag, an dem die Mauer fiel". Das Buch kostet 19,95 Euro,ist unter www.ksta.de/shopper Online-Bestellung vorzubestellensowie telefonisch unter0 18 05 /55 83 75 (14 Centpro Minute aus dem deutschenFestnetz) und im Servicecenterin derBreiteStr. 72.

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