Epilepsie„Anwalt der eigenen Krankheit“

Lesezeit 4 Minuten

Euskirchen – Die Vorstellung ist skurril: Während eines durchaus ernsten Vortrags fängt eine Frau im Publikum plötzlich laut zu singen an. Die anderen Zuhörer stimmen ein, doch der Redner fährt unbeirrt fort. Nach dem Lied ist die Stimmung aufgekratzt, nur langsam können sich die Leute wieder auf den Vortrag konzentrieren. Mit dieser bildhaften Schilderung erläuterte Prof. Dr. Jürgen Bauer von der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn, was bei einem epileptischen Anfall passiert. Er war für einen Vortrag über „Epilepsie und kognitive Störungen“ zur Epilepsie-Selbsthilfegruppe nach Euskirchen gekommen.

Bei so einem Anfall erleidet das Gehirn eine Art Kollaps, der Betroffene verliert sein Bewusstsein – er nimmt das Geschehen in seinem Umfeld nicht mehr wahr. Danach dauert es einige Zeit, bis er seine Orientierung und Aufmerksamkeit wiedergefunden hat.

Rund 40 Gäste waren zu dem Vortrag in das Seniorenzentrum Haus Veybach gekommen. Eingeladen hatte die Epilepsie-Selbsthilfegruppe, die Ulrike Dora und Christa Heinke vor 16 Jahren gegründet haben. Die beiden Frauen hatten sich in den 80er Jahren im Krankenhaus kennengelernt. In der Selbsthilfegruppe bieten sie ein gutes Beispiel dafür, wie viele Facetten die Krankheit haben kann.

Ulrike Dora hat seit ihrem zweiten Lebensjahr Epilepsie. Verursacht wurde die Erkrankung wahrscheinlich durch Fieberkrämpfe, die zu Vernarbungen im Gehirn geführt haben. Seitdem treten bei ihr die sogenannten Absencen auf, Zustände, in denen sie wie weggetreten ist. Dabei hört und sieht die 51-Jährige ihre Umgebung zwar noch, kann aber nicht reagieren und sich auch im Nachhinein an nichts erinnern. In einer Therapie hat sie gelernt, mit ihren Absencen umzugehen, sich zu konzentrieren und beispielsweise ein Messer aus der Hand zu legen oder vom Fahrrad zu steigen, wenn ein Anfall droht. Ulrike Dora gehört zu den Patienten, die man nicht mit Medikamenten so einstellen kann, dass sie keine Anfälle mehr haben. „Mit dieser Anfallart kann ich aber leben“, sagt sie. Ihr Ehemann Günther Dora, zweiter Vorsitzender des Landesverbandes der Deutschen Epilepsievereinigung, unterstützt sie.

Christa Heinke war zehn Jahre alt, als sie ihren ersten Grand-Mal-Anfall hatte. Diese Form der Epilepsie ist besonders auffällig und deshalb wohl am bekanntesten: Der Kranke verliert vollkommen das Bewusstsein. Obwohl sie mit ihren Medikamenten gut eingestellt sei, habe sie häufig mit Rückschlägen im Berufsleben zu kämpfen gehabt, erzählt Heinke. Fadenscheinige Ausreden seien vorgebracht worden, manchmal habe man ihr aber auch ganz direkt gesagt: „Mit jemandem wie dir gehen mir die Kunden laufen.“ Heute ist die 60-jährige Euskirchenerin in der Altenpflege tätig und seit fünf Jahren anfallsfrei. Sie hat gelernt, mit den Reaktionen ihrer Umwelt umzugehen. „Wenn mein Gegenüber nicht damit klar kommt, ist das nicht mein Problem“, sagt sie.

Nicht alle Betroffenen können so offen mit ihrer Krankheit umgehen. Viele versuchen, die Epilepsie zu verstecken, erklären ihre Absencen zum Beispiel mit Kreislaufbeschwerden. Grund dafür sind häufig Scham und die Angst vor den Reaktionen im sozialen Umfeld. „Viele haben ein verkehrtes Bild von der Krankheit und denken, wir sind nicht ganz richtig im Kopf“, erzählt Heinke. Schwer zu schaffen machen den Erkrankten auch die Vorurteile nach einem Vorfall im März 2011 in Hamburg, bei dem ein Epileptiker einen tödlichen Autounfall verursacht hatte. „Das sind Ausnahmen“, so Günther Dora. Epilepsie hat weitreichende Folgen für den Alltag der Betroffenen. Sie müssen auf den Führerschein verzichten, wenn sie nicht mindestens ein Jahr lang anfallsfrei waren. Das Fahren von Bussen oder Lastwagen bleibt auch dann verboten. Darüber hinaus erleben viele der Betroffenen Einschränkungen in ihrem Alltag, wenn sie auf Dinge verzichten müssen, die einen Anfall auslösen könnten. Dazu gehören übermäßiger Alkoholkonsum, aber auch der Wechsel von hell und dunkel, wie er zum Beispiel beim Fernsehen auftritt. Schwimmen ist ohne Begleitung tabu, denn ein Krampfanfall könnte im Wasser tödlich enden.

„Wichtig ist es, zum Anwalt der eigenen Krankheit zu werden und zu lernen, sich selbst richtig einzuschätzen“, erklärt Ulrike Dora. Sie organisiert mit Christa Heinke die Treffen der Selbsthilfegruppe, die einmal im Monat im Haus Veybach stattfinden. Dabei erleben die beiden Frauen, dass die Menschen heute offener mit der Erkrankung umgehen.

Wie die 37-jährige Bettina Kornett aus Billig. Bei ihr wurde die Epilepsie im vergangenen Jahr durch eine Hirnhautentzündung ausgelöst. „Am Anfang war es ganz schlimm“, erzählt sie. Als berufstätige alleinerziehende Mutter war sie in ihrem Alltag komplett eingeschränkt. Ohne Führerschein war sie auf Freunde angewiesen, die ihren Sohn von der Schule abholten oder mal beim Einkauf behilflich waren. Ein Kinobesuch mit ihrem Sohn endete am Euskirchener Bahnhof, weil keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr nach Billig fuhren. „Durch die Krankheit habe ich gelernt, viele Dinge schätzen zu lernen, die einfach nicht selbstverständlich sind. Ich habe meinem Sohn versprochen, wenn ich wieder Auto fahren darf, fahren wir Hotdogs essen.“ Das Versprechen hat sie mittlerweile eingelöst.

www.epilepsieselbsthilfe-euskirchen.de

KStA abonnieren