Redaktionsgespräch zur FlutEuskirchens Bürgermeister zwischen Gänsehaut und Wut

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Das Bild zeigt Sacha Reichelt, wie er sich am Kopf kratzt. Redakteur Tom Steinicke steht rechts neben ihm.

Euskirchens Bürgermeister Sacha Reichelt schwankt zwischen Zuversicht und Wut, wenn er an die Hochwasserkatastrophe denkt. Mit Redakteur Tom Steinicke hat er darüber gesprochen.

Zwei Jahre Flut: Euskirchens Bürgermeister Sacha Reichelt zwischen Zuversicht und Wut. Einige Momente sind besonders in Erinnerung geblieben.

Gänsehaut. Sacha Reichelt spürt sie, wenn er an den Zusammenhalt der Euskirchener nach der Flut denkt. Wut. Auch das empfindet Euskirchens Bürgermeister. Dann, wenn er an diejenigen denkt, die nach der Katastrophe bewusst Falschmeldungen verbreitet haben. In Dom-Esch kam in den Tagen nach dem Hochwasser beides zusammen: Gänsehautmomente und Momente, in denen man an der Menschheit verzweifeln könnte.

Auch deshalb hat sich der Euskirchener Verwaltungschef Dom-Esch für das Gespräch über „Zwei Jahre nach der Flut“ mit der Redaktion ausgesucht. Im Feuerwehrgerätehaus in Dom-Esch hatte Einsatzleiter Thomas Smarsly die Einsatzzentrale eingerichtet, die Stadt baute dort ihre Stabsstelle auf. Von dort aus wurden die Hilfeleistungen koordiniert – so gut es eben ging.

Flut-Erinnerungen machen Euskirchens Bürgermeister sprachlos

Etwa 150 Meter weiter, in der Gymnastikhalle des TuS Dom-Esch, kamen nach der Flut für fünf Tage Flamersheimer, Schweinheimer und Palmersheimer unter. Sie waren vorsorglich evakuiert worden, weil der Damm der Steinbachtalsperre zu brechen drohte. Auf etwa 70 Quadratmetern wurde gelacht, geweint, gezittert. „Hier sind Freundschaften entstanden, die bis heute halten“, so Sacha Reichelt.

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Die Katastrophe schweißt zusammen. Das Motto „Mer stonn widder op“ steht sinnbildlich nicht nur für Euskirchen, sondern für den gesamten Kreis. Die Katastrophe macht den Bürgermeister auch zwei Jahre danach noch nachdenklich, kurzzeitig immer wieder sprachlos. Vor allem dann, wenn er an den 14. Juli 2021 denkt. Dann verschwimmen zwar teilweise die Erinnerungen, aber sie sind da.

Das Bild zeigt das Tuch im Feuerwehrgerätehaus. Viele Menschen haben darauf unterschrieben.

Ein großes Tuch mit dem Dank für die Versorgung von Flut-Evakuierten hängt im Dom-Escher Gerätehaus.

Er habe gerade gekocht. Urlaubswoche. Dann kam der Anruf des Ersten Beigeordneten, Alfred Jaax. Die erste Vorahnung, dass das kein normaler verregneter Tag mitten im Juli würde. Reichelt wurde von der Feuerwehr abgeholt. Gemeinsam wurden die Orte angefahren, in denen es schon am späten Nachmittag kritisch war: Euenheim, Schweinheim, die Steinbachtalsperre.

Reichelt: Hilferufe aus der Flutnacht haben sich eingebrannt

Er bekam die Hilferufe über Funk mit. Hilferufe, die sich eingeprägt haben. Auch, weil er so machtlos gewesen sei – genau wie die Einsatzkräfte. „Bei einigen weiß ich leider nicht, was aus den Menschen geworden ist, die in der Flutnacht Hilfe benötigt haben“, sagt Reichelt.

Bis in den Ortskern von Schweinheim sei man am späten Nachmittag nicht mehr gekommen. Dass nicht nur in Schweinheim und anderen Stellen im Stadtgebiet Land unter ist, wusste der Bürgermeister zu diesem Zeitpunkt nicht. Von Schweinheim ging es zur Steinbachtalsperre. „Das war ein entscheidender Moment, weil die Talsperre kurz davor war, überzulaufen“, so Reichelt: „Das kann man sich selbst als alter Euskirchener nicht vorstellen.“

Euskirchens Bürgermeister Sacha Reichelt ist sichtlich mitgenommen, wenn er an die Flutkatastrophe denkt.

Im Gespräch mit Tom Steinicke schildert Euskirchens Bürgermeister Sacha Reichelt bei einem Gang durch Dom-Esch seine Erlebnisse der Flut und dem zweijährigen Wiederaufbau.

Wie genau es weitergegangen sei, wisse er nicht mehr im Detail. Was der Bürgermeister aber noch weiß: Irgendwann stand er im Thomas-Eßer-Berufskolleg. Der Ort, der für die evakuierten Bürger aus Schweinheim, Flamersheim und Palmersheim als Anlaufstelle vorgesehen war. Bis auch dort das Wasser stieg und die Menschen, die bereits da waren, erneut evakuiert werden mussten.

Was folgte, waren viele Telefonate, die meisten aus dem Feuerwehrgerätehaus in Dom-Esch. „Wir haben versucht, Diesel zu bekommen. Es drohte, alles auszufallen“, sagt der Bürgermeister. Mit Verantwortlichen der Bundeswehr in Berlin habe man unter anderem telefoniert. „Die konnten aber natürlich in Berlin nicht nachvollziehen, in welcher Ausnahmesituation wir uns befunden haben. Hilfe kam aber von allen Seiten“, erinnert sich Reichelt – und wird wieder nachdenklich.

Einsatz in Schweinheim: Die Ungewissheit war das Schlimmste

Eine Tankstelle im Stadtgebiet sei glücklicherweise noch anfahrbar gewesen und reservierte kurzerhand eine Zapfsäule für die Feuerwehr. Und dann ging in Dom-Esch der Funkspruch ein, dass ein Rettungsboot der DLRG mit Euskirchener Feuerwehrleuten in Schweinheim gekentert sei, weitere Feuerwehrleute in den Wassermassen festsitzen.

„Das war heftig. Ich kenne die Kameraden und deren Angehörige. Das ist natürlich eine Situation, in der man denkt: Was sagt man, wenn wir sie nicht mehr lebend zurückbringen?“, so der Verwaltungschef: „Das war mit das Schlimmste.“ Was folgt, ist eine sekundenlange Gesprächspause.

Und dann weicht auch zwei Jahre nach den dramatischen Stunden dem Horror die Erleichterung, dass zumindest diese Situation gut ausgegangen ist. Aus Sicht des Bürgermeisters war es gut, dass Euskirchen nicht so eine Kessellage wie das Ahrtal hat. Es sei zwar in der Kreisstadt viel kaputtgegangen, aber ein großer Teil der Infrastruktur sei nicht zerstört worden.

„Darauf konnten wir aufbauen. Ärzte, Supermärkte, Tankstellen. Es war ein großes Glück, dass Menschen in Euskirchen gar nichts mit dem Hochwasser zu tun hatten“, sagt der Verwaltungschef. Gegen 7 Uhr am 15. Juli 2021 habe er sich hingelegt. An Schlaf sei nicht zu denken gewesen. Ausruhen, kurz Kraft tanken. So gut es ging. Wohlwissend, dass das Wasser zwar größtenteils weg ist, die Aufräumarbeiten aber Jahre dauern werden – und bis heute andauern.

„Die Komplexität der Genehmigungsverfahren ist leider schnell wieder sehr groß gewesen“, kritisiert Reichelt den Bürokratismus: „Es waren keine zwei Monate, da war wieder alles so wie immer. Und das schadet uns, unabhängig von der Flut.“

Herz-Jesu-Vorplatz: Das Herz der Stadt schlug nicht mehr

Am Morgen nach der Flut habe er sich nach 30 Minuten Ausruhen wieder auf den Weg gemacht. Von seiner Wohnung, in der maximal ein paar Zentimeter Veybachwasser standen, machte er sich wieder auf den Weg in seine Heimatstadt. Dass die paar Zentimeter ausreichten, um so viel Schimmel zu produzieren, dass er die eigenen vier Wände mehrere Monate nicht bewohnen konnte und wieder bei seiner Mutter einzog – mit 43 –, ahnte der Bürgermeister zu diesem Zeitpunkt nicht.

Das Bild zeigt den Herz-Jesu-Vorplatz nach der Flut. Das braune Wasser ist noch nicht abgeflossen.

Am Morgen nach der Flut steht das Wasser noch meterhoch im Herz-Jesu-Vorplatz.

Ein Anblick, der in Erinnerung geblieben ist, ist das schmutzige Wasser auf dem Herz-Jesu-Vorplatz, dem Herzen der Euskirchener Innenstadt, wie Reichelt den Ort im Gespräch bezeichnet. „Da schluckt man dann schon mal. Ich habe an vielen Stellen geschluckt, aber da schon besonders“, sagt er. Die Plünderungen in der Innenstadt seien zwei Jahre nach der Flut nur noch ein Randaspekt, aber einer, der ihn enttäuscht habe.

Hochwasser: Reichelt und Jaax als Reitende Boten unterwegs

In den ersten Tagen nach der Flut sei er mit seinem Stellvertreter in der Verwaltung, Alfred Jaax, täglich die verschiedenen Evakuierungspunkte angefahren, um die Betroffenen mit Informationen aus erster Hand zu versorgen. Reitende Boten in Feuerwehrjacken und rot-weißen Fahrzeugen. „Die Stimmung war überall gut. Das zeigt mir auch heute noch, was wir für überragende Menschen im Stadtgebiet haben“, so Reichelt: „Die meisten haben versucht, das Beste aus der Situation zu machen.“

Das war einfach Weltklasse.
Sacha Reichelt, Bürgermeister von Euskirchen

In Dom-Esch war die Evakuierungsstelle aus dem Dorf heraus organisiert worden: „Das war alles nicht selbstverständlich. Mach' das mal als Dorf. Wir helfen jetzt. Das war einfach Weltklasse.“ Und dann kam der dritte Tag nach der Flutkatastrophe. Plötzlich fuhr ein Auto vor. Eine völlig hysterische Frau sprang aus dem Fahrzeug und rief, dass die Steinbachtalsperre gebrochen sei und alles überflutet werde. Aus dem Feuerwehrgerätehaus wurde mit Feuerwehrleuten an der Steinbachtalsperre telefoniert. Diese Art von Falschmeldungen habe bis nach Erftstadt für Panik gesorgt.

Metal-Band lässt Ehepaar zweifeln, sorgt dann aber für Gänsehaut

Und dann weicht die Wut wieder der Zuversicht, der Erinnerung an die guten Momente in einer schwierigen Zeit. „Ein älteres Ehepaar in Schweinheim war gerade dabei, den Boden rauszureißen, als vier langhaarige, schwarz gekleidete Männer hinter ihnen stehen. Das Ehepaar fürchtete das Schlimmste. Dabei wollen die Männer nur wissen, wo sie Werkzeug finden, damit sie mit anpacken können. Das war eine Metalband aus Leipzig. Das ist unglaublich toll. Auch heute noch“, so Reichelt.

Überhaupt überwiegt heute die Zuversicht: Die schönen Erinnerungen überlagern die Frustmomente. Getreu dem von der Stadt ausgelobten Motto „Euskirchen steht widder op“. „Wir sind wieder aufgestanden. Natürlich ist noch nicht alles gut. Wenn man Euskirchen als Menschen sieht, ist der Rücken noch krumm, aber wir sind im Prozess. Wir sind vom Liegen mittlerweile viel weiter entfernt als vom Stehen.“

Hat ihn die Flut verändert? „Ja. So ein Ereignis verändert einen. Die nächsten Regenfälle haben wehgetan. Man wird bewusster, was die Natur angeht – wohlwissend, dass man so etwas bis ins Letzte nicht verhindern kann“, sagt Reichelt.

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