Zwölf Stunden Stress und HektikIn Euskirchener Notaufnahme ist Leben retten Teamarbeit

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Mehrere medizinische Mitarbeiter in der Notaufnahme des Euskirchener Marienhospitals bei ihrer Arbeit. Ein Patient (verdeckt) liegt auf dem Behandlungstisch.

Im Marien-Hospital in Euskirchen geht es in der Notaufnahme täglich um Leben oder Tod.

35.000 Menschen kommen pro Jahr in die Zentrale Notaufnahme des Marien-Hospitals in Euskirchen. Wir haben das Team zwölf Stunden lang bei der Arbeit begleitet.

Hektik. Die Tür der Notaufnahme fliegt auf. Während die Liege in den Schockraum geschoben wird, wird am Patienten gearbeitet. Es geht um Leben oder Tod. Zwischendurch müssen Schwestern und Ärzte noch gebrochene Herzen heilen – von Patienten. Oder manchmal die der Kollegen. Und dass, obwohl das medizinisch gar nicht möglich ist, weil das Herz ein Muskel ist und nicht brechen kann.

Fiktive Krankenhaus-Serie oder Realität? Wie viel Grey's Anatomy, Emergency Room oder „In aller Freundschaft“ steckt im Marien-Hospital in Euskirchen?

„Ich habe mich immer gefragt, wie es möglich ist, dass die bei Grey's Anatomy so viel arbeiten können. Heute weiß ich, dass ich noch viel mehr arbeite“, sagt Assistenzärztin Hannah Hupp-Herschel. Sie lächelt. Sie liebt ihren Job. Auch, wenn er stressig ist und das Privatleben schon mal zu kurz kommt, weil sie im OP steht, während Freunde am Wochenende das Leben genießen, während sie für einen Patienten um das selbige kämpft.

Auch in Euskirchen wächst die Zahl der Notfall-Patienten stetig

Der Alltag ist vielleicht nicht immer identisch mit dem aus der Feder eines Drehbuchautors, aber das Leben selbst schreibt so die besten Geschichten. Davon bekommt das Team der Zentralen Notaufnahme im Marien-Hospital einige mit – und es werden immer mehr. Jedes Jahr steige die Zahl der Patienten um acht bis zehn Prozent.

Drei medizinische Mitarbeiter in der Notaufnahme des Euskirchener Marienhospitals schauen auf ein Blatt Papier.

Gemeinsam begutachten die Mitarbeiter in der Notaufnahme die Werte des Patienten.

Aktuell seien es etwa 35.000 Menschen, die jährlich in der Zentralen Notaufnahme des Marien-Hospitals behandelt werden – etwa 100 sind es pro Tag. „Wenn wir an einem Tag 130 Patienten haben, sind wir im hochroten Bereich: statistisch, aber auch in der Realität. Dann kommen wir an unsere Grenzen“, sagt Dr. Jesko Priewe, Chef der ZNA.

Am Dienstag sind es gegen 11 Uhr elf Patienten. „Das ist eine Rarität“, stellt Priewe fest. Als er das sagt, klopfen alle Teammitglieder irgendwo auf Holz. Man sollte sein Glück eben nicht herausfordern. Und genau das scheint der Chef der ZNA gemacht zu haben. Keine fünf Minuten später geht die Tür auf und der Rettungsdienst schiebt eine Liege hindurch. Im Schlepptau haben die Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes zwei Feuerwehrmänner. Die hatten für den Rettungsdienst die Wohnungstür des 67 Jahren alten Mannes gewaltsam geöffnet.

Euskirchen: Es bleibt keine Zeit, um auf den Notarzt zu warten

Da der Mann nur etwa 500 Meter vom Marien-Hospital entfernt wohnt, entschied sich der Rettungsdienst nicht dazu, den Notarzt zu alarmieren, sondern direkt ins Krankenhaus zu fahren. Eine Entscheidung, die sich als richtig herausstellt, da die Vitalwerte sich stetig verschlechtern. Was dann anläuft, ist trainiert. Immer und immer wieder. Und es zeigt sich, dass es Teamarbeit ist, Leben zu retten. Die Werte und Fachbegriffe, die sich Ärzte und Pfleger zuwerfen, sind schwer zu greifen, selbst als geübter Grey's Anatomy-Fan.

Was die Arbeit der Ärzte im Fall des 67-Jährigen erschwert ist, dass er noch nie im Marien-Hospital war und es daher keine Krankenakte gibt. „Das ist das ideale Beispiel dafür, dass eine digitale Krankenakte sinnvoll ist“, sagt Priewe. Dort wären dann beispielsweise Vorerkrankungen oder Allergien hinterlegt. So fischen die Ärzte im Trüben, schaffen es aber, den Mann zu stabilisieren. Von der Notaufnahme geht es schließlich zum CT und von dort auf die Intensivstation.

Yvonne Pax bei ihrer Arbeit in der Notaufnahme des Euskirchener Marienhospitals.

Yvonne Pax koordiniert die Arbeit des Pflegeteams. Sie ist die „Herrin des Telefons“, das fast alle 30 Sekunden klingelt.

Nur zehn Minuten später klingelt das Telefon. Der nächste Notfall, nur diesmal mit deutlich mehr Vorlaufzeit. Eine Frau wird aus dem Rhein-Sieg-Kreis ins Marien-Hospital überführt. Sie klagt über starke Kopfschmerzen und Unwohlsein. „Jetzt haben wir Zeit, den Schockraum vorzubereiten und uns auf das einzustellen, was auf uns zukommt“, sagt Priewe. Auch die Übergabe des Patienten ist wie aus dem Bilderbuch – einfach, weil sämtliche Daten und Informationen über Vorerkrankungen vorliegen.

Notaufnahme-Chef Jesko Priewe: „Es gibt Sachen, die kann ich nicht vergessen“

Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Notaufaufnahme deutlich gefüllt. Alle Räume sind belegt. Die Ärzte und das ganze Team rotieren. Auf Außenstehende wirkt es hektisch, aber alles ist eingespielt. Es funktioniert einfach.

Wenn die Patienten in der Notaufnahme lange warten müssen, ist das für sie ein gutes Zeichen, denn dann sie nicht ernsthaft krank oder verletzt
Dr. Jesko Priewe, Chef der Zentralen Notaufnahme

Einfach funktionieren. Das müssen die Ärzte während ihrer Arbeit immer wieder. Aber natürlich nehme man den Fall des einen oder anderen Patienten gedanklich mit nach Hause. „Es gibt Sachen, die kann ich nicht vergessen“, sagt Priewe. Ein solcher Fall sei ein junger Familienvater, der in der Kirche gestorben ist. „Er war Vater von drei kleinen Kindern. Da habe ich nur gedacht, dass das doch nicht wahr sein darf. Weil du weißt, was da alles dranhängt“, sagt der ZNA-Chef, der selbst Vater ist: „Da hat man noch etwas von.“

Zwei Rettungssanitäter schieben einen Patienten (verdeckt) auf einer Liege durch die Tür der Notaufnahme.

Pro Jahr kommen etwa 35.000 Menschen in die Zentrale Notaufnahme des Marien-Hospitals nach Euskirchen.

Der Oberarzt der ZNA, Patrick Neu, denkt nach eigenem Bekunden vor allem über Patienten nach, die gestorben sind, obwohl man alles versucht, alles richtig gemacht hat. „Natürlich zermartert man sich den Kopf und spielt alles immer wieder durch, ob man nicht doch hätte etwas anders machen können“, sagt er.

Baby wird nach der Erstversorgung von Euskirchen nach Köln verlegt

Machen können Priewe und er an diesem Tag aber etwas bei einem Kleinkind, das mit Verbrühungen am Arm eingeliefert wird. Die Verletzung erstreckt sich fast über den gesamten Arm des Babys. Priewe stuft den Verbrennungsgrad auf 2 ein, die Haut hat bereits Blasen geworfen.

Für Irritation sorgt zunächst die Aussage der Eltern, dass das Kind zwischen sechs und zwölf Monate alt ist. Auch ohne, dass sie es aussprechen, denken sich beide, dass man das als Eltern doch wissen müsste. Aber es ist eine Extremsituation für Eltern und in diesem Fall kommt die Sprachbarriere erschwerend hinzu. Als die gelöst sind, wird das Baby nach der Erstversorgung im Marien-Hospital nach Köln in die Klinik an der Amsterdamer Straße verlegt.

Kurze Pause. Luft holen. Etwas für den Zuckerspiegel tun. Das funktioniert wie wohl in jedem Unternehmen am besten in der Teeküche. Dort steht eine große Schüssel mit Süßigkeiten. Vormittags ist die voll. Und – Achtung Spoiler-Alarm – am Abend ist kaum noch etwas drin. Nervennahrung eben. Auch für Ärzte und Pfleger. Doch trotz des kleinen, ungesunden Snacks sagt Priewe, dass er in seiner Zeit als Chef der ZNA fast zehn Kilo abgenommen habe. Zeit zum Essen bleibe während einer Tagesschicht selten.

Seit 27 Jahren in der Notaufnahme – weil sie „einfach Bock drauf“ hat

So ziemlich alles hat Yvonne Pax in der Notaufnahme erlebt. Seit 27 Jahren arbeitet die gelernte Arzthelferin in der Ambulanz. Mittlerweile hat sie die Pflegerische Leitung der ZNA. Wie sehr sie sich mit ihrem Beruf identifiziert, verdeutlicht ihre blaue Sweatshirt-Jacke, auf deren Rückseite in pinkfarbenen Glitzerbuchstaben ZNA steht. „Ich habe einfach Bock auf meine Arbeit“, sagt sie.

Natürlich gebe es Tage, an denen sie heulend nach Hause gehe, weil es einfach zu viel gewesen sei. Auch, weil sie von Patienten verbal angegangen worden sei. „So etwas verarbeite ich zu Hause“, sagt die „Herrin des Telefons“. Das klingelt gefühlt alle 30 Sekunden. Die Freude an der Arbeit und daran, Menschen zu helfen, haben auch verbale Attacken ihr nie genommen.

Pax, die auch selbst mit anpackt, wenn etwa ein Blasenkatheter zu legen ist, hat außerdem das Belegungssystem der ZNA im Griff. Dank der Software ist jederzeit zu sehen, welcher Patient wo liegt und was die Erstdiagnose ergeben hat.

Manche Notaufnahme-Patienten wären in der Arztpraxis besser aufgehoben

Immer wieder für Ärger sorgt die vermeintlich lange Wartezeit im Anmeldebereich der Notaufnahme. Auch an diesem Tag ist der Wartebereich am Mittag gut gefüllt. Was hinter der großen Schwingtür passiert, bekommen die Wartenden aber nicht mit. Nichts von dem verbrühten Kind oder dem 67-Jährigen, dessen Zustand schwierig zu stabilisieren ist, weil die Krankenakte fehlt. „Wenn die Patienten in der Notaufnahme lange warten müssen, ist das für sie ein gutes Zeichen, denn dann sie nicht ernsthaft krank oder verletzt“, sagt Dr. Jesko Priewe.

Manch ein Patient sei in der Notaufnahme grundsätzlich falsch, sagt Priewe. Sie wären in einer Arztpraxis besser aufgehoben. Da niedergelassene Ärzte immer weniger würden, kommen viele Patienten in die Zentrale Notaufnahme. Deshalb könnte eine angegliederte Praxis mit gemeinsamen Tresen die Lösung sein, sagt Priewe. Dann könnte nach dem Erstgespräch geklärt werden, wo dem Patienten am besten geholfen werden könne. „Wichtig für die Patienten ist, dass sie sich wahrgenommen fühlen“, so Priewe. Es sei wichtig, dass die Patienten mit einem guten Gefühl aus der ZNA entlassen werden. „Wenn es hier schlecht läuft, sagen die Patienten, dass das Krankenhaus nicht gut ist. Einfach, weil sie nicht mehr davon sehen“, so Priewe.


Experten nehmen Arbeit in der Euskirchener Notaufnahme unter die Lupe

Im Euskirchener Marien-Hospital geht es in den kommenden sechs Monate wissenschaftlich zu. Das Euskirchener Unternehmen Spine Base nimmt die Arbeit des Teams der Notfallambulanz genau unter die Lupe.

„Wir messen die Belastungen bei den ganz alltäglichen Bewegungen während der Arbeit“, erklärt Geschäftsführer Michael Gissinger. Das fange bei einer Ganganalyse an und ende mit einer Livemessung der Belastungen – sei es beim Umbetten eines Patienten oder dem Aufziehen einer Spritze.

„Das Projekt ist deutschlandweit vielleicht einzigartig“, sagt Dr. Jesko Priewe, Chef der Zentralen Notaufnahme im Marien-Hospital. Er erhofft sich wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie die körperlichen Belastungen im Alltag in der Notaufnahme reduziert werden können.

So ist denkbar, dass die Liegen ein fünftes Rad bekommen – genau in der Mitte. „Dadurch lässt sich die Liege viel einfacher lenken und schieben“, erklärt Gissinger. Ein fünftes Rad am Wagen sei nicht immer schlecht. Zudem sollen die Liegen hydraulisch in der Höhe verstellbar werden, damit mit einem Bein nicht immer „gepumpt“ werden müsse.

Um bereits jetzt möglichen Fehlbelastungen entgegenzuwirken, gibt es zudem ab sofort einmal pro Woche Physiotherapie für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Notaufnahme-Team. (tom)

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