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Demenz-WGEine Wohngemeinschaft der besonderen Art gibt es in Weilerswist

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Das Bild zeigt zwei Senioren im Vordergrund. Im Hintergrund ist ein Weihnachtsmann zu sehen.

Die Weihnachtsfeier mit Plätzchenduft, Gesang und einem prächtigen Baum brachte Bewohner wie Angehörige zum Strahlen.

Seit April leben sieben Frauen und drei Männer, die an Demenz erkrankt sind, zusammen. Die Caritas Euskirchen plant weitere WGs.

Es sei ein großer Schritt gewesen loszulassen. Und anzuerkennen, dass man als pflegende Angehörige und liebende Ehefrau nicht mehr das leisten kann, was notwendig wäre, um den an Alzheimer erkrankten Gatten zu betreuen. „Im April dieses Jahres kam mein Mann in eine neue Phase seiner Krankheit. Er entwickelte eine enorme Aggression, vor allem gegen mich“, erzählt Edith Rebmann.

Eine häufige Begleiterscheinung demenzieller Erkrankungen, doch Wutausbrüche und aggressives Verhalten entspringen keiner Boshaftigkeit, vielmehr spiegeln sie die erschwerten Lebensbedingungen und die daraus resultierende Angst der Erkrankten wider. Demenzerkrankte verstehen oftmals die Welt um sich herum nicht mehr, die sich in ihrer Wahrnehmung auch noch ständig verändert.

Demenz ist mehr als der Verlust geistiger Fähigkeiten

Eine Demenz ist eben nicht nur der Verlust der geistigen Fähigkeiten. Sie beeinträchtigt die Sinneswahrnehmungen und damit das gesamte Erleben der Betroffenen. „In der Welt, in der sie leben, besitzen die Dinge und Ereignisse oft eine völlig andere Bedeutung als in der Welt der Gesunden. Die Betroffenen vereinsamen innerlich, da ihnen keiner in ihrem Erleben der Welt mehr zu folgen vermag“, heißt es auf einer Beratungsseite des Bundesgesundheitsministeriums.

Edith Rebmann wurde im Frühjahr klar, dass ihr Mann nicht mehr zu Hause leben kann. „Ihn in diese Wohngemeinschaft zu geben, ist mir sehr viel leichter gefallen, weil es kein Heim ist. Und außerdem bin ich in fünf Minuten mit dem Fahrrad hier“, sagt sie. Mittlerweile sei der 74-Jährige gut angekommen und er werde bestens versorgt – „auch bei aggressiven Schüben“, weiß sie.

Das Bild zeigt einen Blick in die Demenz-WG.

Die WG-Bewohnerinnen und -Bewohner zeigten sich bei den alten Weihnachtsliedern textsicher, hier Regina Richner mit Angehörigen.

Das Bild zeigt die beiden Obengenannten.

Heinz Meyer – hier mit Tochter Heike Orlando – ist mit seinen 92 Jahren der älteste WG-Bewohner, dafür aber einer der fittesten beim Spazierengehen.

Sieben Frauen und drei Männer leben in der Wohngemeinschaft St. Elisabeth an der Heinrich-Rosen-Allee in Weilerswist-Süd. Heinz Meyer ist mit seinen fast 93 Jahren der älteste Mieter, „dafür aber sehr fit – bei Spaziergängen rennt er immer vorneweg“, erzählt Tochter Heike Orlando. Als die Demenz ihres Vaters fortgeschritten war, hätten ihre Mutter und sie zunächst überlegt, einen Heimplatz zu suchen.

„Also haben wir uns Heime angeschaut, und wir fanden es einfach nur gruselig.“ Orlando sagt, sie habe den Eindruck, dass dort viel mit sedierenden Medikamenten gearbeitet werde. Und dann gab es diese Info-Veranstaltung des Caritasverbandes über die geplante Demenz-WG: „Wir haben direkt danach einen Termin gemacht, zwei Wochen später haben wir den Vertrag unterzeichnet.“

Als das nicht mehr ging, habe ich sie bei mir aufgenommen. Ich habe sie nämlich wirklich total gern, diese alte Dame.
Annabelle Richners

Bei Annabelle Richners Mutter Regina begann die Demenz vor etwa zehn Jahren. Trotzdem gelang es mit Unterstützung von Familienangehörigen und später einer polnischen Pflegekraft, ihr noch lange das Leben in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen. „Als das nicht mehr ging, habe ich sie bei mir aufgenommen. Ich habe sie nämlich wirklich total gern, diese alte Dame “, sagt sie und lächelt. Die Pflege ihrer Mutter habe sie jedoch an ihre Grenzen gebracht, erzählt Annabelle Richner.

Sie bekam einen Heimplatz für die 85-Jährige, doch als sie einer „medikamentösen Unterstützung“ zustimmen sollte, habe sie ihre Mutter nach zwei Wochen wieder mitgenommen. Schließlich erhielt sie von Mitarbeitenden der Caritas-Tagesstätte Euskirchen den Tipp, sich die Demenz-WG in Weilerswist anzuschauen. „Meine Mutter ist alles andere als ein WG-Typ und ich war skeptisch, ob ihre Demenz nicht vielleicht schon viel zu weit fortgeschritten ist, um sich hier noch einzufinden.“ Aber es kam anders, die Mutter fühle sich offenbar sehr wohl in dem neuen Zuhause. Und auch ihre Tochter ist, wie sie sagt, „wirklich sehr gerne hier“.

Die Anfangszeit in der Demenz-WG in Weilerswist war turbulent

Natürlich gab es in der Anfangszeit der Demenz-WG Turbulenzen, „man kannte sich und die Gewohnheiten der anderen noch nicht, aber mittlerweile klappt der Alltag und das Miteinander hier wirklich gut“, erzählt Saskia Reder, Koordinatorin des im Erdgeschoss befindlichen Quartiersbüro und der Demenz-WG. Die Sozialarbeiterin hält mit ihrer Begeisterung für die Arbeit nicht hinterm Berg: „Das ist genau das, was ich immer machen wollte.“ Und ein weiteres Plus ihrer neuen Aufgabe: Sie darf noch jemanden mit zur Arbeit bringen, Malu, einen kleinen braunen Pudel, der in Sekundenschnelle alle Herzen erobern kann. Vor allem die der WG-Bewohnerinnen und -Bewohner.

Ein gravierender Unterschied zu einem Pflegeheim ist, dass jeder Mieter in der WG in größtmöglicher Selbstbestimmung leben kann. Zwar gibt es einen groben Rahmen, beispielsweise werden um 8 Uhr alle geweckt, aber wann und was gefrühstückt wird, bestimmen die WG-Bewohner selbst. Jeden Tag wird frisch gekocht, und nach Möglichkeit soll dabei auch geholfen werden: Gemüse schnippeln, Kartoffeln schälen, den Tisch decken, „und wenn es nur ein einziger Teller ist, der hingestellt wird“, so Saskia Reder.

Das Bild zeigt die beiden Obengenannten an einem Tisch. Edith Rebmann legt einen Arm um ihren Mann.

Edith und Karl-Heinz Rebmann feierten kürzlich in der Wohngemeinschaft ihren 39. Hochzeitstag – mit Torte und Rebmanns Lieblingsessen, wie seine Frau erzählt.

Das Bild zeigt die Koordinatorin der Demenz-WG mit ihrem Hund.

Pudel Malu (mit Frauchen Saskia Reder) verzaubert alle Mieterinnen und Mietern im Handumdrehen.

Nachmittags gibt es Kaffee und Kuchen, Spaziergänge, gemeinsame Einkäufe und Freizeitangebote, die auch teilweise von den Angehörigen angeleitet werden. Heike Orlando hat mit den Mieterinnen und Mietern einen großen Baum gemalt, an dessen Ästen apfelgroße Fotos aller Menschen in der WG hängen. Und auch die sehr persönlichen Schilder an den Zimmertüren wurden gemeinsam gebastelt: Es sind Foto-Collagen, auf denen der jeweilige Bewohner zu sehen ist, mit Familienangehörigen, mit Haustieren und Freunden oder bei Tätigkeiten, die in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben.

Ehrenamtliche Helfer besuchen die WG, das Feiern kommt nicht zu kurz

„Wir sind auch offen für ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die Zeit mit unseren Mietern verbringen wollen“, sagt Reder. Sei es aus der Zeitung vorlesen, basteln, singen, spielen oder begleitend beim Spazierengehen. In der Wohngemeinschaft steht ein Klavier, auf dem gerne gespielt werden darf. Und über Besuch von Menschen mit Tieren freue man sich auch sehr.

Wie es sich für eine richtige WG gehört, kommt auch hier das Feiern nicht zu kurz: Anlässe gibt es genug, Geburtstage oder Hochzeitstage wie kürzlich bei Edith und Karl-Heinz Rebmann. „39 Jahre sind wir jetzt verheiratet“, sagt die Weilerswisterin. Zur Feier des Tages hatte sie eine Torte gebacken und das Leibgericht ihres Mannes gekocht.

Wir waren auch schon mal alle zusammen bei McDonald's, was ein riesiger Spaß für alle war.
Saskia Reder, Koordinatorin der Demenz-WG

Gefeiert wurden auch St. Martin und davor ein kleines Oktoberfest, mit bayerischer Dekoration, süddeutschen Spezialitäten und Gesang. „Wir waren auch schon mal alle zusammen bei McDonald's, was ein riesiger Spaß für alle war“, sagt Reder. Und als Liedermacher Uwe Reetz   zu Besuch war, haben am Ende alle getanzt: Mieter, Angehörige und Mitarbeitende.

Jüngster Anlass zum geselligen Miteinander war die Weihnachtsfeier, die im großen Raum des Quartiersbüros stattfand. WG-Bewohnerinnen und -Bewohner genossen mit ihren Familien den schönen Tag, der von einem Besuch des Nikolauses gekrönt wurde. Hinter Kostüm und Rauschebart versteckte sich Markus Schmitz, ein Angehöriger, der mit humorigen Reimen über jeden einzelnen Mitarbeitenden seinen Dank für die gelungene Zusammenarbeit ausdrückte.

Die Pflege steht in der Demenz-WG nicht im Vordergrund

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu einem Heim sei, dass in einer Demenz-WG sozialarbeiterisch gedacht werde und nicht die Pflege im Fokus stehe, erklärt Maria Surges-Brilon, zweite Vorständin des Caritasverbandes Euskirchen. Das ermögliche Lösungen, die es im Pflegeheim so nicht geben würde: „Also wenn zum Beispiel nachts einer der Mieter durch die Gänge spaziert, dann kann sich die Nachtwache mit ihm aufs Sofa setzen und einen Film anschauen. Oder wenn jemand nachts Hunger hat, bekommt er in der Küche noch ein Brot geschmiert.“ In einer Wohngemeinschaft mit Demenz-Erkrankten könne man nur im Hier und Jetzt leben, in genau dem einen Augenblick, der gerade stattfindet.

Angehörige und Mitarbeitende haben im Laufe der Monate oft erlebt, welch großes Gespür die Demenz-Erkrankten für Stimmungen haben. „Sie merken sofort, wenn jemand nicht authentisch ist“, sagt Reder. Und wenn ein anderer Bewohner traurig ist, dauere es meist nicht lange, bis andere auch weinen, so die Sozialarbeiterin. Eine angenehme und spannungsfreie Atmosphäre, die Halt und Sicherheit gibt, ist für Menschen mit Demenz maßgeblich, um sich wohlzufühlen.

Die Altersspanne ist groß und die Lebensgeschichten verschieden

Darum ist man in der Wohngemeinschaft St. Elisabeth vielfältig bemüht. Und noch etwas dürfe man nicht vergessen: „Wir haben hier eine große Altersspanne an Mietern, zwischen dem jüngsten und dem ältesten liegen fast 30 Jahre“, erklärt Saskia Reder. Es gebe Menschen, die den Krieg miterlebt haben, andere haben das Computerzeitalter im Berufsleben noch voll mitbekommen. Ein Bewohner spiele gerne Luftgitarre. „Und ein anderer kann jeden Songtext von der Band Queen mitsingen“, so Reder.

Die Frage, die sich alle Angehörigen der WG-Mieterschaft gestellt haben, ist die, ob der Einzug von Vater, Mutter oder Mann der letzte Umzug war, den der geliebte Mensch meistern musste. Was passiert bei einer Verschlechterung des Zustandes? „Alles, was wir zuhause machen könnten, kann man auch hier machen“, sagt Annabelle Richner. Mithilfe des eingebundenen Pflegedienstes der Caritas können die Menschen versorgt werden und damit bis ans Ende ihres Lebens in der WG verbleiben.


Alternative Wohnform, in der Angehörige aktiv mitgestalten

Zehn Menschen mit demenziellen Erkrankungen leben in der Wohngemeinschaft St. Elisabeth. Die WG bietet Sicherheit und Gemeinschaft, hat dabei aber nicht den Charakter eines Pflegeheims. Das Konzept der Demenz-WG macht es möglich, dass Menschen mit Demenz länger selbstbestimmt leben können.

Und dass Angehörige aktiv an der Gestaltung des Alltags mitwirken. Professionelle Pflegekräfte und eine Nachtwache sichern die Betreuung rund um die Uhr. „So entstehen Unterstützung, Selbstbestimmung und ein Mehr an Lebensqualität“, heißt es im Flyer der Demenz-WG.

Die Mieterinnen und Mieter wohnen in geräumigen, hellen und barrierefreien Zimmern mit eigenen Badezimmern. Die Räume können sie mit ihren Angehörigen selber einrichten und gestalten. Außerdem gibt es gemütliche Gemeinschaftsräume, in denen gemeinsam gekocht und gegessen wird. Zwei Terrassen – eine davon überdacht – bieten im Sommer zusätzliche Aufenthaltsmöglichkeiten.

Eine Demenz-WG bietet eine alternative Wohnform zwischen häuslicher und vollstationärer Pflege. Angehörige oder rechtliche Betreuer treffen sich regelmäßig, um gemeinsame Anliegen zu besprechen und Beschlüsse im Interesse der WG-Mitglieder zu fassen.

Der Caritasverband Euskirchen plant, 2027 zwei weitere Demenz-Wohngemeinschaften zu eröffnen, und zwar in Euskirchen.