ZeitzeugenWie Gerda Dübbers Familie damals in Gillenberg eine Jüdin versteckte

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Die Familie von Gerda Dübbers versteckte Nathalie Kraul vor den Nationalsozialisten.

  • Die 89-jährige Gerda Dübbers aus Gillenberg hat die Nazizeit miterlebt.
  • Sie hat uns erzählt, wie ihre Familie damals Nathalie Kraul, eine Jüdin, vor den Nationalsozialisten versteckte.
  • Gerda Dübbers Mutter hatte Nathalie in Köln kennengelernt – während eines Bombenalarms in einem Luftschutzbunker in der Nähe des Beethovenplatzes.

Gillenberg/Köln – Als die Wehrmacht mit der Ardennenoffensive begann, wurde die Lage für Nathalie Kraul dramatisch. In dem Haus in Gillenberg, in dem sich die Jüdin versteckt hatte, quartierten sich jetzt immer wieder deutsche Soldaten und Offiziere ein. Eines Tages machten auch SS-Leute in dem aus nur wenigen Häusern bestehenden Eifelweiler Station. Die Frau schwebte in höchster Gefahr.

Dass sie in der Nähe von Kall Zuflucht gefunden hatte, hatte Nathalie Kraul der Familie Ehlen zu verdanken. Clemens und Maria Ehlen, die aus der Eifel stammten – er aus Urft, sie aus Steinfelderheistert –, hatten sich in den Jahren zuvor in Köln, wo sie seit 1941 wohnten, eine berufliche Existenz aufgebaut. „Meine Eltern betrieben in der Marzellenstraße eine Speisegaststätte. Im Mai 1943 wurden wir dort ausgebombt“, erzählt ihre Tochter Gerda Dübbers.

Mit einer Hausangestellten kam die dreiköpfige Familie in Gillenberg unter, bei einem verwitweten Onkel der Mutter, die in der Folgezeit hin und wieder nach Köln fuhr, „um irgendwelche Dinge zu erledigen“, so die Tochter.

Kopie von Gillenberg_1

Gillenberg, ein Weiler in der Nähe von Kall.

Um den Jahreswechsel 1943/44 zog auch eine ältere Dame in das Haus des Großonkels ein. „Meine Mutter sagte, die Frau sei wie wir ausgebombt worden. Ich habe ihr aber nicht geglaubt, die Frau hatte nämlich Möbel und ein Klavier mitgebracht.“

Also sagte Maria Ehlen ihrer Tochter, die damals 13 Jahre alt war, die Wahrheit: Sie hatte die Frau in Köln kennengelernt – während eines Bombenalarms in einem Luftschutzbunker in der Nähe des Beethovenplatzes. Weil Nathalie Kraul als Jüdin um ihr Leben fürchten musste, bot Maria Ehlen ihr an, ihr in Gillenberg Unterschlupf zu gewähren. „Wie sie zu uns in die Eifel gekommen ist, weiß ich nicht“, sagt Gerda Dübbers.

Sie lebte in einer Abstellkammer

Ihre Mutter bläute ihr ein, niemandem von dem Gast zu erzählen: „Das könnte schlimme Folgen haben“, habe sie gesagt: „Falls jemand fragt, sagst du, das ist eine Bekannte von uns, die ausgebombt worden ist.“

Irgendwann wurde der heute 89 Jahre alten Gerda Dübbers klar, dass ihre Familie der Kölnerin wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, indem sie sie vor den Nazis versteckte. „In Gillenberg hat sie in einem kleinen Zimmer gelebt, in einer früheren Abstellkammer, die vielleicht drei mal drei Meter groß war.“ Im diesem Raum habe sie auch die Mahlzeiten zu sich genommen. Nach draußen sei sie in der Regel nur gegangen, wenn es dunkel war.

Nie hat sie über ihr Schicksal geredet

„Für mich war Frau Kraul wie eine Oma“, erzählt Gerda Dübbers im Gespräch mit dieser Zeitung in ihrer Kölner Wohnung. „Wenn die Luft rein war, hat sie manchmal gekocht. Am Herd gab sie mir Tipps.“ Über ihr Schicksal habe die Jüdin mit ihr nie offen gesprochen. „Man darf aber nicht vergessen, dass ich ja noch ein Kind war.“

Von ihrer Mutter wusste sie, dass Nathalie Kraul, eine geborene Wertheim, und ihr Ehemann, der Christ war, im Siegerland ein Hotel besessen hatten. Nach ihrem Umzug nach Köln lebten sie in einer Wohnung in der Lindenstraße. „Wo ihr Mann war, als sie sich bei uns versteckte, ob er noch am Leben war – ich habe keine Ahnung.“

Der Zug wurde manchmal von Fliegern beschossen

Nach der Umsiedlung aus Köln hatte Gerda Ehlen, wie sie damals hieß, zunächst das Mädchengymnasium in Euskirchen besucht. „Der Weg war aber zu weit, zumal ich zuerst zu Fuß zum Bahnhof nach Urft musste.“ Also wechselte sie zum Schleidener Gymnasium. Mal ging sie zu Fuß nach Sistig, um dort den Bus zu nehmen, mal fuhr sie von Kall aus mit der „Flitsch“. „Das war aber gefährlich. Der Zug wurde manchmal von Fliegern beschossen.“

Während der Ardennenoffensive hatten die Ehlens in Gillenberg fast jeden Tag Einquartierungen: „Die Offiziere wohnten im Haus, die Soldaten schliefen in der Scheune im Heu. Sie waren oft so kaputt, dass sie sich direkt aufs Ohr hauten.“

SS-Leute schöpften Verdacht

Auch SS-Leute blieben vorübergehend in dem Eifelweiler. Einer von ihnen bekam Nathalie Kraul zu Gesicht, die wohl einen Moment lang unvorsichtig gewesen war, und schöpfte Verdacht. Doch auf entsprechende Fragen behauptete Maria Ehlen, die Frau sei ausgebombt worden und habe sich „hier mal eine Nacht ausgeschlafen“, so Gerda Dübbers: „Die beiden gingen der Sache nicht weiter nach. Am nächsten Tag waren sie schon wieder verschwunden. Das war ein großes Glück für uns.“

Nach Übersee emigriert

Was wurde nach dem Krieg aus Nathalie Kraul? Die Familie Ehlen verlor recht schnell den Kontakt zu der Jüdin, wie Gerda Dübbers erzählt. Recherchen dieser Zeitung führten zu Dr. Peter Vitt. Der Regionalhistoriker aus dem Raum Siegen veröffentlichte 2009 die Dokumentation „Jüdische Bürger im Netpherland“.

Darin schreibt er, dass die kinderlosen Eheleute Alfred und Nathalie Kraul in Obernetphen das Hotel Jägerhof betrieben. Eine Urkunde belegt, dass sich Nathalie Kraul als Eigentümerin 1938 von dem Haus trennte. Anschließend sei das Ehepaar nach Köln umgezogen. Zeitzeugen, so Vitt, hätten berichtet, dass die Krauls den Verkauf rechtzeitig geregelt hätten und nach Übersee emigriert seien, „nachdem Nathalie bei Bauern in der Eifel versteckt wurde und die NS-Zeit überlebt hat“.

Wo genau Alfred Kraul sich in dieser Zeit aufhielt, ist allerdings noch immer nicht geklärt. Vielleicht hätten er, der ja ein Christ war, und seine Ehegattin sich vorübergehend getrennt, um die Überlebenschancen der Jüdin während der Nazi-Herrschaft zu verbessern, mutmaßt Gerda Dübbers. (ejb)

Als Clemens Ehlen erzählte, dass die US-Amerikaner das nahe gelegene Sistig eingenommen hätten, machte sich seine Tochter gleich auf den Weg, „obwohl mein Vater mir das ausdrücklich verboten hatte“. In Sistig berichtete sie einem GI, dass ihre Familie eine Jüdin versteckt halte. „Ich musste mit zur Kommandantur und wurde zu einem Soldaten gebracht, der Deutsch sprach.“

US-Soldat hat geholfen

In einem Jeep fuhren die beiden nach Gillenberg. „Frau Kraul, hier ist Besuch für Sie“, habe sie bei der Ankunft gerufen, erzählt Gerda Dübbers: „Dann unterhielten sich der Amerikaner und die Frau Kraul auf Jiddisch.“ Sollten irgendwelche Zweifel bestanden haben, dass die Geschichte nicht stimmte – spätestens jetzt waren sie aus der Welt.

Am nächsten Tag kam der Soldat zurück, brachte warme Decken, Schokolade und Konserven mit. Auch später, als die Kommandantur nach Steinfeld verlegt worden war, „hat er uns immer wieder besucht und uns mit Lebensmitteln versorgt“. Er sei gerne bei der Familie zu Gast gewesen, „denn er liebte Bratkartoffeln mit Spiegelei, die er bei uns bekam“.

Sie verloren sie irgendwann aus den Augen

Nathalie Kraul bezog in der Nachbarschaft ein größeres Zimmer, Gerda Ehlen verlor sie irgendwann aus den Augen. Was aus der Jüdin wurde, die in Gillenberg mithilfe der Ehlens die NS-Zeit überlebte, weiß sie nicht. Die Familie machte nicht viel Aufhebens um die Geschichte: „Über solche Dinge hat man damals nicht gesprochen“, sagt die Kölnerin.

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1950 ging sie nach Wales, um eine Ausbildung als Krankenschwester zu beginnen. Doch zwei Jahre später rief ihre Mutter sie zurück. Sie hatte in Köln erneut ein Restaurant eröffnet, diesmal in der Hohe Straße, „und wollte, dass ich ihr helfe“. So arbeitete die Tochter in der Gastronomie – bis sie Rudolf Dübbers heiratete und selber eine Familie gründete.

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