Forschung mit Burscheider PianowerkstattWie man den schönen Schauer messen kann

Professor Heike Endepols ist Neurowissenschaftlerin und befasst sich mit Klang. Dabei arbeitet sie mit Piano Enzenauer zusammen.
Copyright: Ralf Krieger
Burscheid/Köln – Frau Professor Endepols, die Firma Enzenauer hat Ihr Klavier gestimmt. Nun machen sie ein gemeinsames Forschungsprojekt zum Thema Klang. Wie schlagen Sie die Brücke zwischen Klavierbaukunst und Neurobiologie?
Heike Endepols: Die Aufgabe des Klavierbauers besteht darin, herauszufinden, welcher Klang des Klaviers oder Flügels seinem Kunden vorschwebt. Dann konstruiert er ein Instrument, das genau den gewünschten Klang hervorbringt. Damit könnte eigentlich alles erledigt sein. Wenn der Klavierbauer darüber hinaus aber wissen will, warum der Pianist einen bestimmten Klang wünscht, und welche Emotionen dadurch bei den Zuhörern ausgelöst werden, kommt er allein nicht mehr weiter. Dann kommen Disziplinen wie Psychoakustik oder eben Neurobiologie ins Spiel.
Wie ist Klang in seiner Auswirkung auf Emotionen messbar? Was passiert mit uns auf der Empfängerseite, wenn wir Klaviermusik hören?
Emotionen sind generell nicht messbar - das ist auch der Grund, warum sie lange Zeit nicht wissenschaftlich untersucht wurden. Sie werden nur vom Individuum selbst erlebt und haben deshalb eine starke subjektive Komponente. Objektiv messbar sind dagegen die körperlichen Reaktionen, die den Emotionen zugeordnet sind - die sogenannten somatischen Marker. Dazu gehören beispielsweise die Herzfrequenz oder die elektrische Leitfähigkeit der Haut. In Bezug auf Musik gibt es einen weiteren somatischen Marker, der mit dem Grad des Vergnügens in Verbindung gebracht wird: Der Schauer, der uns über den Rücken läuft, wenn uns Musik besonders berührt. Bei angenehmen Schauern ist das Belohnungssystem des Gehirns stark aktiviert, wobei der Neurotransmitter Dopamin im Vordergrund steht. Die Gänsehaut beim Musikhören ist zwar meist nach wenigen Sekunden vorbei, aber trotzdem kann gute Musik unsere Stimmung für eine längere Zeit positiv beeinflussen. Die entsprechenden Mechanismen sind fast gänzlich unbekannt. Es wird vermutet, dass der Neurotransmitter Serotonin dabei eine Rolle spielt. Ich bin sehr gespannt darauf, was wir oder andere darüber in den nächsten Jahren noch herausfinden werden.
Was löst ein schriller Alarm in unserem Nervensystem aus?
Das auditorische Alarmsystem ist für unser Überleben im Lauf der Evolution des Menschen ungeheuer wichtig gewesen, und ist es auch heute noch. Es hat die Aufgabe, aus der akustischen Umwelt diejenigen Stimuli herauszufiltern, die eine mögliche Bedrohung signalisieren. Ein Kriterium dafür ist die Intensität des Schallereignisses, das heißt ein Alarm muss immer laut sein. Ein zweites Kriterium ist die Rauigkeit, die durch Frequenz- und Amplitudenmodulationen erzeugt wird. Das bedeutet, dass ein effizientes Alarmsignal periodisch lauter und wieder leiser werden kann, oder sich die Tonhöhe periodisch ändert.
Was passiert dabei?
Schallsignale werden im Gehirn in der sogenannten aufsteigenden Hörbahn verarbeitet, deren Aktivität an die Periodizität des Schallsignals ankoppelt. Besonders bei einer Modulationsfrequenz von 30-80 Hz (Gammaband) kommt es zu einer zusätzlichen Aktivierung von neuronalen Netzwerken, die ansonsten Aversion und Schmerzen verarbeiten. Wird ein Schallsignal als besonders bedrohlich eingestuft, zum Beispiel wenn die Lautstärke schnell ansteigt und dadurch eine sich nähernde Schallquelle signalisiert, werden sogar „Abkürzungen“ in den Verarbeitungswegen beschritten.
Das könnte Sie auch interessieren:
Das Aversionsnetzwerk wird dadurch schneller als normalerweise aktiviert, und kann damit Flucht- oder Abwehrreaktionen einige Sekundenbruchteile früher einleiten, was fürs Überleben entscheidend sein kann. Über „falschen Alarm“ kann man sich danach immer noch Gedanken machen.
Sie erforschen das Hörsystem von Wirbeltieren. Wie verhält es sich zum Beispiel mit dem Hörverhaltens eines Froschlurchs?
Frösche nehmen einen großen Teil der akustischen Umwelt wahr, sie reagieren aber nur auf ganz wenige Signale mit einer Verhaltensantwort. Dazu gehören die arteigenen Rufe, allen voran die Paarungsrufe und Revierrufe der Männchen. Früher wurde angenommen, dass Frösche nur zu stereotypen Handlungen befähigt sind. Heute wissen wir jedoch, dass ein Froschchor durch eine komplexe akustische Interaktion der beteiligten Individuen entsteht, und dabei hoch variabel ist.
In den USA erforschten Sie den Laubfrosch und seinen Balzgesang. Was macht einen „guten Sänger“ aus?
Bei den meisten Fröschen treffen allein die Weibchen die Partnerwahl, und zwar nach rein akustischen Kriterien. Für ein Laubfroschweibchen sind Partner attraktiv, deren Rufe laut und langgezogen sind. Das signalisiert große Fitness. Die Tonhöhe ist dagegen bei allen Individuen konstant, damit jede Art ihre spezifische akustische Signatur ausbilden kann. Da an einem Teich viele Froscharten leben, muss eine versehentliche Paarung mit der „falschen“ Spezies ausgeschlossen werden. Für uns Menschen ist eine solche Strategie schwer vorstellbar. Wir wählen unsere Partner eher nach visuellen und olfaktorischen Kriterien, und unsere Stimmen klingen individuell sehr unterschiedlich.
Was bewirkt der Klang im Hörsystem einer Ratte?
Das Hörsystem der Ratte arbeitet ganz ähnlich wie unseres. Säugetiere sind, im Gegensatz zu allen anderen Wirbeltieren, generell auf hohe Frequenzen (oberhalb von 10 kHz) spezialisiert. Je kleiner das Tier, desto höher die Kommunikationsfrequenz. Der Grund dafür ist, dass die Säugetiere ursprünglich nachtaktiv waren, viele Arten sind es heute noch. Das Auffinden von Artgenossen wird daher hauptsächlich akustisch erreicht. Das Problem dabei ist, dass die beiden Ohren bedingt durch die engen Eustachischen Röhren (die Verbindung zwischen Mittelohr und Rachenraum) mechanisch komplett voneinander isoliert arbeiten. Die Ortung von Schallsignalen erfolgt bei Säugetieren daher erst im Gehirn durch Analyse von Laufzeit- und Intensitätsunterschieden zwischen den beiden Ohren. Wenn die Wellenlänge größer ist als die Distanz zwischen den beiden Ohren, funktioniert das nicht gut. Bei Fröschen sind die beiden Ohren durch die weiten Eustachischen Röhren auf Mittelohrebene mechanisch miteinander gekoppelt, was die präzise Ortung von niederfrequenten Schallsignalen (1–5 kHz) erlaubt. Daher ist das nächtliche Paarungsverhalten der Frösche für uns unüberhörbar, während sich Ratten, genauso wie Mäuse, inkognito vergnügen.
Wie funktioniert das?
Sie kommunizieren nämlich im Ultraschallbereich, etwa zwischen 20 und 50 kHz (Wellenlänge 1,7¬–0,7 cm), was für uns nur über Frequenzwandler hörbar gemacht werden kann. Der Alarmruf der Ratte, ein langgezogener stereotyper 22 kHz-Ton, aktiviert Hirnregionen des Angst- und Aversionssystems und führt zu Verhaltensreaktionen, zum Beispiel plötzliche Bewegungslosigkeit („Einfrieren“).
Kann man Klang ordnen, kategorisieren?
Schallereignisse sind durch drei Eigenschaften beschreibbar. Die erste ist die Tonhöhe beziehungsweise die spektrale Zusammensetzung. Unser Innenohr trennt ein Schallereignis in die einzelnen Frequenzen auf und ermöglicht so eine präzise spektrale Analyse. Die Abbildung der Frequenzen ist in der gesamten Hörbahn ortscodiert, also an bestimmte Stellen im Nervensystem gekoppelt. Die zweite Eigenschaft ist die Zeitstruktur (Rhythmus). Die neuronale Aktivität der Hörbahn koppelt an die Zeitstruktur des Schallsignals an, genauso wie an die dritte Eigenschaft, die Intensität. Unser Hörsystem schafft es, einerseits die physikalischen Eigenschaften des Schallsignals hochgeordnet zu verarbeiten, andererseits aber auch Bezüge zu konstruieren, die aus dem Schallereignis rein physikalisch nicht ersichtlich sind. Das beste Beispiel ist der sogenannte Cocktailparty-Effekt, bei dem die Stimme des Gesprächspartners aus dem allgemeinen Stimmengewirr zielsicher herausgefiltert wird.
Das Ohr ist ein Multitalent und Tor zum Bewusstsein. Wie beeinflusst es Emotionen?
Das Tor zum Bewusstsein ist der Thalamus, auf deutsch „Brautkammer“. Das ist ein romantischer Name, der auf zwei Dinge anspielt: Der Thalamus liegt in der Mitte des Gehirns, im sogenannten Zwischenhirn, genauso wie eine traditionelle Brautkammer in der Mitte des Hauses liegt. Außerdem wird in die Brautkammer keiner vorgelassen, der nicht ein wichtiges Anliegen hat. So kontrolliert der Thalamus, was das Bewusstsein erreicht. Da unser Bewusstsein nur eine begrenzte Kapazität bei einem gleichzeitig enormen Energieverbrauch hat, dringen nur die wenigsten sensorischen Stimuli bis dorthin vor. Auch der Großteil unserer Emotionen operiert unterhalb der Bewusstseinsebene. Oft werden wir uns einer Emotion erst bewusst, wenn die zugeordneten somatischen Marker eine hohe Intensität erreichen, zum Beispiel merken wir erst, dass wir Angst haben, wenn unsere Knie anfangen zu schlottern und das Herz rast. Insbesondere kontinuierlich präsente Schallsignale (leise Musik im Hintergrund) werden schnell aus dem Bewusstsein ausgeblendet. Trotzdem werden sie ständig überwacht, was eine emotionale Bewertung mit einschließt. Dies wird über Verbindungen der Hörbahn mit den Emotionsarealen erreicht, die auf fast jeder Verarbeitungsebene existieren. Wir reagieren sogar ständig motorisch auf Schallereignisse, ohne dass uns dies bewusst wird. Typisch sind Hinwendungen zu Schallquellen, zum Beispiel beim Waldspaziergang eine Kopfdrehung hin zu einem Vogelruf, oder Synchronisation mit der Zeitstruktur eines Schallsignals wie beim Wippen des Fußes im Rhythmus zur Musik.
Gemeinsam mit Jan Enzenauer bauen sie eine Datenbank mit Fachliteratur zum Thema Klang auf. Seit wann ist das ein Thema?
Vor drei oder vier Jahren haben wir begonnen, nach dem Klavierstimmen darüber zu sprechen. Intensiv arbeiten wir seit einem Jahr an dieser Thematik.
Gibt es einen Zusammenhang mit der Farbe eines Klangs und unseren Emotionen?
Man sagt, die Klangfarbe eines Instruments werde durch die Intensitäten der Obertöne bestimmt. Wir gehen aufgrund unserer Studien davon aus, dass eine Ergänzung um weitere Sound-Parameter geeignet ist, den Zusammenhang von Schallsignalen und Emotionen besser zu beschreiben. Hier haben die künstlerischen-wissenschaftlichen Kenntnisse von Jan Enzenauer geholfen, diesen Zusammenhang besser zu verstehen. Übrigens ein überaus ergiebiger interdisziplinärer Ansatz von Kunsthandwerk und Neurobiologie. „Zärtlichkeit“ oder „Traurigkeit“, die mit sanften Klängen in Verbindung gebracht werden, werden nicht nur über charakteristische Obertöne charakterisiert, sondern können auch über typische Ein- und Ausschwingvorgänge erkannt werden. „Ärger“ wird mit „scharfen“ Klängen mit entsprechender Obertonstruktur assoziiert, und kann auch anhand schneller Veränderungen der Lautstärke detektiert werden. Die am stärksten emotional wirkenden Eigenschaften von Musik sind jedoch die Tonalität und das Tempo.
Weinen französische Babys anders? Wie unterscheidet sich das italienische vom französischen Klangideal?
Babys lauschen schon im Mutterleib auf die Sprachmelodie der Mutter und merken sich die charakteristischen Eigenschaften. Wenn sie dann geboren sind, folgen ihre Lautäußerungen diesem Muster. Daher unterscheidet sich das Weinen französischer Babys mit seiner aufsteigenden Melodie deutlich von deutschen Babys, die mit einer absteigenden Melodie weinen. Das Kunsthandwerk hat sicher eigene gute Antworten auf die Frage nach Klangidealen. Im Moment arbeiten wir an den französischen und deutschen Hörkurven, die auf Unterschiede der Wahrnehmungsbereitschaft schließen lassen und unterschiedliche Wertungen von Sound vermuten lassen.
Das Auge hat 125 Millionen Sinneszellen, das Ohr „nur“ 3500. Muss es improvisieren?
Ja, so könnte man es nennen. Auch das, was wir als „passives Hören“ bezeichnen, ist ein hochgradig aktiver und konstruierender Prozess. Je schwächer die physikalischen Reize aus der Umwelt werden, desto stärker arbeitet unser Hörsystem, um aus einem spärlichen Input noch Informationen herauszuholen. Die Kehrseite dieser Leistung ist die Anfälligkeit für Tinnitus, der zum Beispiel bei Hörstörungen im Gehirn erzeugt werden kann. Wenn der sensorische Eingang ausfällt, laufen die Verstärkungsmechanismen der Hörbahn ins Leere und erzeugen sinnlose Wahrnehmungen. Das kann jeder selbst ausprobieren, wenn er sich einige Zeit in einem schallgedämpften Raum aufhält - übrigens eine sehr unangenehme Erfahrung.
Wir brauchen einen Ton nur eine Millisekunde zu hören, um zu wissen, ob es in Richtung wütend oder ängstlich geht. Gibt es das Charakteristika mit Blick auf Tonfrequenz oder Lautstärke. Oder was passiert?
Bei der Kommunikation mit anderen Menschen ist es essenziell, Angst und Ärger auseinanderzuhalten. Beide können Gefahr signalisieren, erfordern jedoch völlig unterschiedliche Maßnahmen. Unser Gehirn zieht dafür die Grundfrequenz und deren Variabilität heran, sowie die Intensität hochfrequenter Obertöne. Bei einem ärgerlichen Sprecher variiert die Tonhöhe stark, und die hochfrequenten Obertöne sind sehr intensiv, was sich in vielen Zischlauten äußert. Ein ängstlicher Sprecher bleibt weitgehend bei einer Tonhöhe und verwendet weniger Zischlaute. Diese Unterschiede innerhalb einer Millisekunde zu erfassen, funktioniert wahrscheinlich nicht, dazu braucht man schon ein wenig mehr Zeit. Es geht aber schnell, viel schneller als man vielleicht glauben mag. Einzelne Soundparameter werden innerhalb von wenigen Millisekunden von der Hörbahn erfasst und innerhalb von einigen Zehntelsekunden zu einem sinnvollen Höreindruck zusammengefügt.
Der Klang findet auch Einzug in die Industrie. Elektrische Autos erhalten einen kreierten Sound. Was kann der Klang bei technischen Geräten bewirken? Ihre Prognose, werden die Geräte durch ihren Sound künftig individueller, persönlicher?
Schallereignisse spielen im täglichen Leben als Informationsträger eine große Rolle. Im Gegensatz zu visuellen und taktilen Stimuli, auf die wir unsere Sinnesorgane räumlich ausrichten müssen, nehmen wir Schall immer aus allen Richtungen wahr. Daher ist Sound bestens dazu geeignet, die Mensch-Maschine-Kommunikation ergonomischer zu gestalten. Ein einfaches Beispiel dafür ist, dass ein Alarmsignal, zum Beispiel aus dem Kollisionswarner im Auto, von vorne in der Nähe der Scheibe ertönen sollte. Wir sind so gebaut, dass wir unseren Blick zuerst und schnell einem Alarmsignal zuwenden. Im Fall der drohenden Kollision sollten wir also getriggert werden, nach vorne zu schauen, und nicht zum Beispiel nach unten. Das nennt man übrigens „Simon-Effekt“. Sounds von langsam fahrenden Elektrofahrzeugen sollte den Fußgänger in jedem Fall deutlich informieren. Dazu sollte der Frequenzbereich so gewählt werden, dass auch ältere Menschen, die hohe Frequenzen vielleicht nicht mehr so gut hören, akustisch informiert werden.