Start-Festival LeverkusenBundesjugendballett tanzt die widerständige Erinnerung

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Das Bundesjugendballett erinnerte mit „Die Unsichtbaren“ an verfolgte Tänzerinnen und Tänzer.

Das Bundesjugendballett erinnerte mit „Die Unsichtbaren“ an verfolgte Tänzerinnen und Tänzer.

Das Bundesjugendballett kam mit einem berührenden Stück von John Neumeier ins Erholungshaus. 

Minutenlang schießen laut und prominent Namen aus verschiedenen Richtungen durch eine bedrückende Stille des ausverkauften Erholungshauses. Es sind die Namen jener Tänzerinnen und Tänzer, die durch die Nazis um ihre Leidenschaft und Berufung gebracht, verfolgt und ermordet wurden. „Die Unsichtbaren“, die durch den Nationalsozialismus von Menschen zu Nummern wurden, denen John Neumeier mit dem Bundesjugendballett (BJB) und dem Ernst Deutsch Theater ein hochkarätiges, bedrückend, wie spannendes Andenken geschaffen hat.

Die zeitgenössische Choreografie beginnt fliegend, es wirkt so, als wenn die zwischen neunzehn und dreiundzwanzig Jahre alten Tänzerinnen und Tänzer gerade aus ihrem Alltag kommen, gerade aus dem Bus ausgestiegen sind und zum normalen Training erscheinen. Dann wird aber klar, dass dieses heute nicht unter normalen Bedingungen stattfindet – die Nazis haben die Macht ergriffen. Ein überlieferter Brief des verfolgten Tänzers Jean Weidt wird verlesen: Er schrieb diesen, als er nach einem Auftritt im Ausland zurück in ein Deutschland kam, welches nicht mehr dasselbe war. Direkt erfuhr er, dass die Geheime Staatspolizei ihn verhaften wollte: „Ich blieb auf dem Schiff und fuhr über London nach Paris. Ich war zum Emigranten geworden.“

Ich blieb auf dem Schiff und fuhr über London nach Paris. Ich war zum Emigranten geworden
Jean Weidt

In Uniform und Springerstiefeln stampft die elf Tänzerinnen und Tänzer des BJB über die Bühne, später sehr explizit in Gefangenenkleidung des Konzentrationslagers Auschwitz. Die Tänzerinnen und Tänzer des BJB erfinden sich in den verschiedenen Szenen in ihren Bewegungen immer wieder neu. Ihr Tanz ist eine fesselnde Auseinandersetzung mit den Tanzformen der Zeit als „nicht-arischer “ Tanz in Deutschland zum Stillstand kommen sollte. Größen wie Rudolf von Laban, Mary Wigman, Gret Palucca, Harald Kreutzberg, Alexander von Swaine, werden dabei allerdings nicht nachgeahmt, sondern eher weitergedacht, auch überspitzt. Aus überlieferten Fotos und Filmausschnitten seien „Stileindrücke“ entstanden, die Neumeier mit dem BJB weiterentwickelt habe.

Das Bühnenbild ist ein beeindruckender Nachbau des gelben Ballettsaals von Mary Wigman mit einer großen jüdischen Wandmalerei – dieses wird dann live im Stück von den Nazi-Darstellern überstrichen. Wigman war Vorreiterin des modernen Ausdruckstanzes, sie unterrichtete Größen wie Harald Kreutzberg, Gret Palucca, Hanya Holm und Dore Hoyer. Im Jahre 1933 kämpfte sie dafür, weiter Jüdinnen und Juden offiziell zu unterrichten.

Neumeier schuf eine Tanz-Collage

Ein erhaltenes Manuskript einer Rede, die sie 1941 gehalten hat, dient in „Die Unsichtbaren“ als Leitfaden. Immer wieder unterbrochen von Tanzwelten des BJB und historisch überlieferten Schriftstücken, entnommen aus Briefen, Vorträgen oder anderen Dokumenten der Nazizeit. Neumeier habe entschieden, dass „Die Unsichtbaren“ zwecks der Verständlichkeit Text haben müsse, beispielsweise Stimmen von Emigranten. Es sollte dabei aber keine durchgehende Geschichte sein wie im Theater, sondern etwas, was er „Tanz-Collage“ tauft – ja fast ein neues Genre.

Das Bundesjugendballett trat im Rahmen des Start-Festivals im Erholungshaus auf.

Das Bundesjugendballett trat im Rahmen des Start-Festivals im Erholungshaus auf.

„Dass ich als Ausländer die Chance hatte, meine Karriere in Deutschland zu entwickeln, gibt mir die Verantwortung, für die Unsichtbaren in der Geschichte dieses Landes zu sprechen. Mit meinen Mitteln: nicht indem ich eine Doktorarbeit schreibe oder einen Dokumentarfilm drehe, sondern indem ich meiner rationalen und vor allem emotionalen Reaktion auf ihr Schicksal eine sichtbare Form gebe“, heißt es von Neumeier, der selbst 1963 aus den USA nach Deutschland kam. Im Erholungshaus wird das Stück durch eine passende Ausstellung ergänzt, die „an Wenige von sehr Vielen“ erinnern möchte. Namen und Porträts sind dafür um den Saal herum angebracht.

16 Szenen erwecken „Die Unsichtbaren“ zum Leben

Der angemessene Umgang mit so einem bedrückenden Thema gelingt in der Kombination der verschiedenen Kunstformen. In insgesamt sechzehn Szenen werden „Die Unsichtbaren“ auf intensive Weise auf der Erholungshausbühne zum Leben erweckt. Vergleicht man hier beispielsweise Isabella Vértes-Schütter mit historischen Fotos von Wigman, denkt man wirklich, Wigman stünde leibhaftig vor einem. Kammermusik von zwei Pianisten an einem Flügel auf der Bühne, kreiert dafür eine ganz besonders passende intime Atmosphäre.

Einen direkten Bezug zur Gegenwart mit dem Angriffskrieg von Putin auf die Ukraine stellt „With God on our Side" von Bob Dylan her. Die „Schuldfrage“, die auf der Bühne im Teil „Anklage und Verteidigung“ gerichtsähnlich verhandelt wird, hat ebenfalls eine besonders hohe Aktualität. Am Ende gibt es mit Freddy Mercurys „Bohemian Rhapsody" ein lebensfrohes Finale, zu der das BJB im direkten Kontrast zur eher düsteren Bühne nun in Kostümen in den Regenbogenfarben tanzt. Am Ende öffnet sich der Vorhang zum Schlussapplaus – dahinter ist plötzlich eine weiße Wand, sonst nichts. Zuerst werden so „Die Unsichtbaren“ beklatscht, dann alle Beteiligten dieses im positivsten Sinne experimentellen Theaters.

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