Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt rasant, doch fehlendes Personal, begrenzte Plätze und überlastete Angehörige bringen das System an seine Grenzen.
Pflege am LimitWie Leverkusen den demografischen Wandel spürt

„Wir lieben unseren Beruf sehr“, so Petra Amberg und Anna-Katharina Müller, die beide in der Pflege bei der Caritas Leverkusen arbeiten.
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„Ich habe gedacht, ich, bekomme das alleine hin. Im Krankenhaus musste ich mir aber eingestehen: Ich brauche Hilfe.“ Sigrid S. (84) aus Langenfeld wurde im Sommer an der Hüfte operiert. Seitdem kommt täglich Alltagshelferin Kamila zu ihr nach Hause, kocht frisch und unterstützt die Rentnerin. „Vorher konnte ich alles alleine machen. Geduld zu haben, fällt mir schwer – aber Kamilas Unterstützung bedeutet mir sehr viel.“ Die Geschichte von Sigrid S. steht beispielhaft für viele ältere Menschen in der Region, die plötzlich pflegebedürftig werden.
Die Zahlen sind eindeutig: Ende 2023 lebten in Leverkusen laut dem statistischen Landesamt 15.537 pflegebedürftige Menschen – ein Plus von mehr als 3300 in nur zwei Jahren. Den größten Anteil machten Pflegegeldbezieher aus, die zu Hause versorgt werden, häufig ausschließlich durch Angehörige.

Stefan Bollert (61), Geschäftsführer der„Active Care GmbH“, führt mit seiner Frau Ilona (63, ausgebildete Krankenschwester) seit August den Alltagshilfedienst „Homecare“ in Schlebusch.
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Das Angebot an Plätzen wächst dagegen kaum: In Leverkusen gibt es derzeit 1331 stationäre Pflegeplätze in zwölf Einrichtungen, darunter 90 eingestreute Kurzzeitpflegeplätze. Das sind flexible nutzbare, vorübergehende Plätze in einer vollstationären Pflegeeinrichtung. Ob ein Platz frei wird, entscheidet sich zufällig – feste Plätze für die reine Kurzzeitpflege, beispielsweise nach einem Krankenhausaufenthalt wie bei Sigrid S., hat Leverkusen gar keine.
Hinzu kommen 47 Plätze in vier ambulanten Wohngruppen sowie 100 Plätze in sechs Tagespflegen. Ambulant betreuten Ende 2023 insgesamt 37 Dienste über 2200 Menschen. Doch die Nachfrage steigt schneller als das Angebot – und das bei gleichzeitig wachsendem Personalmangel.
Wir konkurrieren um jede Fachkraft.
Anna-Katharina Müller, Fachdienstleiterin Senioren und Pflege der Caritas Leverkusen, beschreibt die Situation als angespannt: „Stationär sind alle Plätze belegt, und auch ambulant entstehen schnell Lücken.“ Rund fünf Pflegefachkräfte sucht die Caritas aktuell – wie nahezu jeder Träger in der Stadt. „Unser Team ist stark, aber das Durchschnittsalter liegt bei 50 Jahren. Der Nachwuchs fehlt“, so Müller.
Hinzu kommen wirtschaftliche Hürden. Pflegeplätze auszubauen sei für viele Träger kaum machbar, sagt Anna-Katharina Müller: „Die Kostensituation spitzt sich immer weiter zu: Personalkosten, Sachkosten, Hygienevorgaben – alles steigt, aber die Pflegesätze werden nur knapp kalkuliert. Für viele Einrichtungen bedeutet ein Umbau ein unkalkulierbares Risiko. Von Neubauten ganz zu schweigen.“
Pflege ist ein Kraftakt für die Angehörigen
Der Sozialverband VdK Nordrhein-Westfalen spürt die Folgen unmittelbar: „Unsere Mitglieder berichten von drei zentralen Problemen: steigende Eigenanteile, die viele Familien finanziell belasten; Überlastung pflegender Angehöriger, die kaum noch Entlastung finden und die Komplexität der Pflegebürokratie. Viele suchen Hilfe beim Pflegegrad-Antrag, beim Ausfüllen von Formularen oder bei Widersprüchen. Das ist ein klarer Hinweis dafür, wie groß der Bedarf an Orientierung und leicht zugänglicher Beratung ist“, so Referentin Vanessa Rengers-Patz.
Für Familien ist Pflege ein Kraftakt – organisatorisch, finanziell und emotional. Und dennoch: Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden in Leverkusen weiterhin von Angehörigen betreut. Petra Amberg (65), seit 24 Jahren Pflegefachkraft im ambulanten Dienst der Caritas, erzählt aus der Praxis: „Ich mag ernsthaft alles an meinem Beruf. Aber die Versorgung ist schwieriger geworden. Viele Angehörige wollen nicht loslassen oder haben Angst, ihre Angehörigen in ein Pflegeheim zu geben, weil sie dann selbst allein wären.“
Die Lösung: Pflege daheim statt im Heim?
Neue Anbieter wie die „Active Care GmbH“ in Schlebusch versuchen, Versorgungslücken zu schließen. Ihr Konzept heißt „Homecare – die Alltagshelfer“: Ihre Mitarbeiter übernehmen stundenweise Unterstützung im Haushalt oder bei der körperlichen Grundpflege, begleiten zum Arzt, kochen, oder sind einfach Gesprächspartner – damit pflegebedürftige Menschen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben können. „Wir wollen nicht das Leben umkrempeln, sondern ein Stück stationäre Pflege nach Hause bringen“, sagt Geschäftsführer Stefan Bollert.
Die Nachfrage sei enorm: Innerhalb weniger Wochen habe sein Team über 30 Kunden gewonnen. „So viele Heime, wie gebraucht würden, kann man gar nicht bauen. Mittel- bis langfristig wird ambulante Versorgung zu Hause forciert werden müssen“, so Bollert.
Der Rat der Stadt Leverkusen hatte im Dezember 2023 beschlossen, dass für die Stadt Leverkusen ab 2024 eine „verbindliche Pflegebedarfsplanung“ eingeführt wird. Ziel ist es, gemeinsam mit Trägern und Verbänden Strategien zu entwickeln, um die Versorgung langfristig zu sichern. Doch die Umsetzung sei ins Stocken geraten: „Seit dem Ratsbeschluss haben wir keine neuen Informationen erhalten“, kritisiert Martin Kaldik vom Arbeitskreis Leverkusener Berufsbetreuer.
Was sich ändern müsste
Die Pflegekräfte wünschen sich realistische politische Rahmenbedingungen – und mehr Anerkennung. „Wir haben einen Beruf mit hoher Verantwortung und großem Fachwissen, aber die Darstellung in der Öffentlichkeit ist meist negativ“, sagt Anna-Katharina Müller von der Caritas. „Dabei erleben wir viel Dankbarkeit unserer Kunden.“ Sie fordert schnellere Entscheidungen, eine bessere Anerkennung ausländischer Abschlüsse und eine Leverkusener Infrastruktur, die den Beruf praktikabler macht – etwa zuverlässigen ÖPNV für Schichtdienste.
Immerhin: Das Klinikum Leverkusen setze auf internationale Rekrutierung und flexible Ausbildungs- und Schichtmodelle, um Personal zu bekommen und zu halten. Zudem werden laut dem VdK ambulant betreute Wohngruppen und niedrigschwellige Gruppenangebote für Menschen mit Demenz und Behinderung ausgebaut.
Eines ist klar: Mit der wachsenden Zahl an Pflegebedürftigen wird die Lücke zwischen Bedarf und Angebot in Leverkusen noch größer werden. Ob sie geschlossen werden kann, hängt davon ab, wie ernst Politik und Gesellschaft die Aufgabe nehmen.