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„Sind auf keinem guten Weg“Wie in Leverkusen gegen Essstörungen vorgegangen wird

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Eine junge Frau mit einem Zentimetermaß um den Bauch

Angst vor der Zunahme: Eine junge Frau mit einem Zentimetermaß um den Bauch

Deutlich mehr Beratungsanfrage – ein Netzwerk versucht, die Kräfte zu bündeln.

Die Krankheit ist lange und weitläufig bekannt: Essstörungen wie Anorexie (Magersucht), Bulimie oder Binge-Eating (exzessives, übermäßiges Essen) gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Jugendalter – vor allem bei Mädchen oder jungen Frauen. Und Anorexie gehört zu den psychischen Erkrankungen mit der höchsten Sterblichkeitsrate – rund zehn Prozent der Erkrankten sterben im Verlauf.

Trotz des Bewusstseins darüber wird die Problematik größer statt kleiner, auch in Leverkusen. „Aktuell bin ich da nicht so überzeugt, dass wir auf einem guten Weg sind“, warnt Andrea Frewer, Leiterin der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt. Zwar werde einerseits heute mehr über Essstörungen geredet, was es für viele Betroffene leichter mache, sich Hilfe zu suchen. „Andererseits erleben wir aber gesellschaftliche Rückschritte bei den Rollenbildern und Körperidealen“, berichtet Frewer.

Bundesweit hat sich die Zahl der betroffenen Mädchen und jungen Frauen zwischen zehn und 17 Jahren in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Beratungsstellen in Leverkusen berichten von ähnlichen Tendenzen: Die Anfragen werden häufiger, die Fälle komplexer – und die Hilfestrukturen sind oft überlastet.

Ein Netzwerk für Leverkusen

Ein zentraler Baustein der lokalen Versorgung ist das Leverkusener Netzwerk Essstörungen, ein Zusammenschluss der Suchthilfe gGmbH, des Kinderschutzbundes, der Sozialpsychiatrischen Ambulanz, der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt und des Gleichstellungsbüros der Stadt. Gegründet wurde es 2010, nachdem Fachkräfte die wachsende Bedeutung des Themas erkannt hatten.

Andrea Frewer, Leiterin der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt

Andrea Frewer, Leiterin der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt

„Als ich im Dezember 2010 hier in der Beratungsstelle angefangen habe, war das Erste, was auf meinem Tisch lag, eine Anfrage der Kollegen von der Suchthilfe für ein Netzwerk zum Thema Essstörung“, erinnert sich Frewer. Heute trifft sich das Netzwerk jedes halbe Jahr, organisiert Veranstaltungen und sorgt dafür, dass Betroffene schnell an die richtige Stelle vermittelt werden. Frewer ist Heilpädagogin und beschäftigt sich schon seit fast 30 Jahren mit dem Thema. 

Gewalt und Essstörung – ein Zusammenhang

Somit kennt sie sich auch mit den Ursachen aus: „Sehr viele Frauen, die Gewalt erlebt haben, entwickeln auch eine Essstörung. Natürlich nicht alle, aber die Überschneidungen sind groß.“ Dieser Zusammenhang ist bundesweit bekannt: Traumatische Erinnerungen gelten als Risikofaktor. Essstörungen wie Anorexie, Bulimie oder Binge-Eating sind dabei nicht nur Ausdruck von Kontrollverlust, sondern auch ein Versuch, Kontrolle über den eigenen Körper zurückzugewinnen. „Wir sagen oft: Es ist ein Selbsthilfeversuch“, erklärt Frewer.

Mehr Anfragen seit Corona

Schon vor der Pandemie gab es kontinuierlich Beratungsanfragen in Leverkusen, doch seit 2020 beobachten die Fachkräfte einen deutlichen Anstieg. „Bei einzelnen Trägern gab es auch grade in der Corona-Pandemie deutlich mehr Anfragen“, sagt Frewer. Das deckt sich mit bundesweiten Zahlen: Besonders stark zugenommen haben die stationären Behandlungen bei Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren.

Die Ursachen sind vielschichtig – neben familiären Belastungen und psychischen Vorerkrankungen spielen gesellschaftliche Faktoren eine wachsende Rolle. Social Media, Castingshows, ständig neue Körperideale seien Einflüsse, die vor allem junge Menschen besonders stark beeinflussen, sagt Frewer. In den letzten Jahren gab es zwar auch den Trend zu „Body Positivity“ – dem Wunsch, jede Körperform zu lieben. Aktuell sieht man aber vor allem wieder extrem dünne Körper auf Werbeplakaten.

Hilfe in kleinen Schritten

Wer in Leverkusen Hilfe sucht, findet beim Netzwerk verschiedene Anlaufstellen. Beim Frauennotruf kommen einige Klientinnen aus eigenem Antrieb, andere auf Drängen von Eltern oder Angehörigen. „Bei Essstörungen gibt es fast immer Ambivalenz bei den Betroffenen“, erklärt Frewer. „Ein Teil weiß, dass das Verhalten schadet – ein anderer Teil erlebt es als entlastend. Unserer Aufgabe ist es, diese Widersprüche ernst zu nehmen und gemeinsam nächste Schritte zu entwickeln.“

Dazu gehöre manchmal eine medizinische Abklärung, manchmal der Übergang in eine stationäre Klinik – oder auch die längerfristige Begleitung im Beratungssetting. „Wichtig ist auch die Nachsorge“, so Frewer. „Nach dem Klinikaufenthalt merken viele, dass die alten Muster im Alltag zurückkehren. Dann begleiten wir sie weiter.“

Keine direkte Förderung der Stadt

Nicht nur Betroffene, auch Angehörige wenden sich immer wieder an die Beratungsstellen. Die größte Angst von Eltern sei, dass ihr Kind verhungert, erklärte die Heilpädagogin. Viele berichteten, dass sich das Familienleben nur noch ums Essen drehe. „Wir versuchen, Eltern dafür zu sensibilisieren, dass Kontrolle – etwas Kommentare wie ‚Hast du heute schon gegessen?‘ – kontraproduktiv sind. Stattdessen geht es um Vertrauen und eine tragende Beziehung“ erklärte sie.

Das Netzwerk arbeitet zwar engagiert, stößt aber an Grenzen. „Unsere Kapazitäten sind gering, weil wir alle noch andere Schwerpunkte haben“, so Frewer. Finanziert wird die Arbeit aus unterschiedlichen Töpfen. Jede Beratungsstelle werde unabhängig finanziert, das Netzwerk selbst erhält keine direkte Förderung der Stadt. 

Für die Zukunft wünscht sich Frewer mehr Strukturen und Verbindlichkeit. Laut der Expertin brauche es genügend Klinikplätze, mehr Therapeutinnen mit Spezialisierung und Hausärzte, die erkennen, was zu tun ist. Auch Schulen müssten das Thema noch ernster nehmen. Prävention müsse schon früh beginnen – schon in Kitas, wo Kinder lernen, Hunger und Sättigung zu unterscheiden.