Missbrauchte Heimkinder„Uns wurden Psychopharmaka für Medikamententests eingeflößt“

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Wolfgang Wagner vor dem Franz-Sales-Haus, das er heute noch „Tatort“ nennt.

Wolfgang Wagner vor dem Franz-Sales-Haus, das er heute noch „Tatort“ nennt.

  • In den 60er-Jahren sind viele Heimkinder für Medikamentenversuche missbraucht worden. Wolfgang Wagner ist eines von ihnen.
  • Noch heute leidet er unter den Folgen. Dennoch muss er sich mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) um seinen Berufsschadenausgleich streiten.
  • Wagner hält das Vorgehen des LVR für zynisch. Er sagt: „Die Berechnung macht mich erneut zum Opfer von Diskriminierung.“

Köln – Wolfgang Wagner steht vor dem „Franz-Sales-Haus“ in Essen-Huttrop. Es fällt ihm nicht leicht, über das zu reden, was ihm in der Behinderteneinrichtung in seiner Kindheit widerfahren ist. Gewalt war an der Tagesordnung. „Uns wurden Psychopharmaka für Medikamententests eingeflößt“, sagt der 60-Jährige. Der Anblick des Altbaus löst bei ihm Beklemmungen aus: „Das ist heute ein modernes Heim. Aber für mich bleibt das Haus ein Tatort. Das Unrecht, das mir dort widerfahren ist, verfolgt mich bis in die Gegenwart.“

Damit meint das frühere Heimkind auch seinen Konflikt mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR). Dort hatte Wagner einen Berufsschadenausgleich nach dem Opferentschädigungsgesetz beantragt. Die Zahlung soll den Einkommensverlust von Opfern abmildern, die wegen einer Gewalttat keine Chance hatten, einen angemessenen Beruf zu erlernen. Aber was ist angemessen? Wie wird der Satz berechnet? Dazu hat Wagner eine Nachricht vom LVR bekommen, die ihn wütend macht.

Ein Schicksal, das Hunderten Heimkindern in NRW widerfahren ist

In dem Schreiben, das dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ in Kopie vorliegt, wird Wagner aufgefordert, den schulischen und beruflichen Werdegang seiner Eltern darzulegen. Die Beurteilung der Lebensverhältnisse der Eltern würde dazu beitragen, die mögliche berufliche Entwicklung der Kinder ableiten zu können, lautet die Begründung. „Bitte senden Sie uns die vorhandenen Nachweise hierzu ein“, heißt es in dem LVR-Bescheid.

Wolfgang Wagner war seit seiner Säuglingszeit in Heimen untergebracht, vom achten bis zum 20. Lebensjahr im Franz-Sales-Haus. In der Behinderteneinrichtung wurden ihm täglich die Psychopharmaka Esucos und Truxal eingeflößt, die ihn ruhigstellen sollten. Er teilt ein Schicksal, das vielen hundert Heimkindern im Land widerfahren ist. Die Präparate, die eigentlich gegen psychotische Symptome wie Wahnvorstellungen verordnet werden, waren bei den Kindern medizinisch nicht indiziert. Die Präparate hatten akute Nebenwirkungen, führen aber auch zu langfristigen Schäden, die ein Leben lang anhalten.

Kölner Jura-Professor kritisiert den LVR

Wagner hat beim LVR, der in Nordrhein-Westfalen für die Entschädigung der Betroffenen zuständig ist, in einem langjährigen Verfahren eine Opferrente in Höhe von rund 300 Euro erstritten. Der Ausgleich für den Einkommensverlust steht dem Essener darüber hinaus zu. Wagner hält das Vorgehen des LVR aber für zynisch. „Die Berechnung macht mich erneut zum Opfer von Diskriminierung“, sagt er. Die Eltern von Heimkindern hätten oft in ärmlichen Verhältnissen gelebt. „Die Berechnung an der Ausbildung der Eltern bedeutet: Wer aus Armut kommt, soll arm bleiben“, sagt er.

Der Kölner Jura-Professor Jan Bruckermann teilt die Kritik. „Die Orientierung des LVR an einem Vergleich mit Familienangehörigen verstößt gegen das freie Menschenbild des Grundgesetzes und stellt sich damit als willkürlich, weil erkennbar nicht auf die eigene Person des Antragsstellers bezogen, dar“, erklärt der Spezialist für Gesundheits- und Sozialrecht, als der „Kölner Stadt-Anzeiger“ ihn mit dem Fall konfrontiert. Biografien von Familienangehörigen ließen keine Rückschlüsse auf potenzielle Karrieren der Antragssteller zu. „Das Heranziehen von Berufen, die in der Familie praktiziert wurden, betoniert vielmehr den Antragssteller in einer sozialen Gesellschaftsschicht ein“, so Bruckermann.

Die Logik des LVR sei offenbar, dass Abkömmlinge aus Arzt- und Professorenehen regelmäßig die Berufe ihrer Eltern ergreifen würden. Dies sei aber unsinnig. Der Jurist schlägt vor, das Durchschnittseinkommen in Deutschland zur Bemessung der Ausgleichszahlung heranzuziehen. Laut Statistischem Bundesamt liegt das derzeit bei 3994 Euro. Die Ausgleichszahlungen des LVR beliefen sich dagegen im Schnitt auf 858 Euro.

Landschaftsverband Rheinland verteidigt sich

Der LVR verteidigt sich auf Anfrage dieser Zeitung. Das Opferentschädigungsgesetz sehe vor, dass in Fällen, in denen Kinder vor Beginn der Ausbildung geschädigt wurden, „teilweise Prognoseentscheidungen auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeiten getroffen“ werden müssten. Gemäß der Ausführungsverordnung seien dabei „Veranlagung und Fähigkeiten“ sowie „sonstige Lebensverhältnisse der Beschädigten“ mit zu berücksichtigen. „Hierbei werden regelhaft als zusätzliche Anhaltspunkte auch die berufliche und soziale Stellung der Eltern und Geschwister mit herangezogen“, heißt in der Stellungnahme des LVR. Das könne auch zu einem „günstigeren Ergebnis“ für die Betroffenen führen, betont eine Sprecherin. Wolfgang Wagner hat als Bäckerhelfer, Lagerarbeiter, Gärtner und Hausmeister gearbeitet. Seit März 2019 ist er arbeitslos.

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Die Regelungen für den Berufsschadensausgleich, auf die sich der LVR beruft, wurden in den 50er Jahren ursprünglich dafür geschaffen, kriegsbeschädigten Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg ein auskömmliches Leben zu ermöglichen. Josef Neumann, sozialpolitischer Sprecher der SPD im Landtag, hält die Anwendung der Normen für den Umgang mit Heimkindern, die für Medikamentenversuche missbraucht wurden, für falsch. „Wir reden hier von Leid, das einem Menschen zugefügt worden ist“, sagt der Politiker aus Solingen: „Die Entschädigung dafür muss sich doch an der Größe des Schadens ausrichten und nicht an dem sozialen oder ökonomischen Umfeld, aus dem der Betroffene stammt.“

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