An jeder Ecke die GelegenheitWie sich Alkoholiker auch im Lockdown selbst halfen

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Leere Alkoholflaschen auf einem Spielplatz. (Symbolbild)

  • Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen haben in den vergangenen Monaten alles bestimmt.
  • Frank Klemmer spricht in der Reihe dieses Mal mit Friedbert Isele und Klaus Witner von der Gummersbacher Gruppe des Blauen Kreuzes.
  • Sie erzählten, wie die Gruppe den Lockdown überstanden hat.

Inwiefern war die Arbeit des Blauen Kreuzes in Gummersbach von Corona betroffen?

Friedbert Isele: Wir mussten etliche Wochen aussetzen. Wir haben ja einen Gruppenraum im ehemaligen Saftladen, der heute Haus der Selbsthilfe heißt. Dort treffen wir uns an jedem Dienstagabend. Als wir aufgrund des Lockdowns aussetzen mussten, haben wir uns Gedanken gemacht, wie wir den Leuten digital helfen können. Wir haben auch die ersten Sitzungen per Videochat über Zoom gemacht. Die jüngeren Leute waren sofort dabei, wir haben dann immer auch vier bis sechs Teilnehmer gehabt. Die kostenlose Zoom-Zeit war dann zwar auf 45 Minuten begrenzt, aber die hat dann auch gereicht. Die ältere Generation konnte und wollte sich mit dieser Technik gar nicht beschäftigen. Wir haben schon festgestellt, dass es in dieser Zeit, in der es keine echten Treffen gab, einigen sehr, sehr schwer gefallen ist.

Wie viele sind Sie normalerweise?

Isele: Es gibt insgesamt acht Gruppen des Blauen Kreuzes im Oberbergischen Kreis. Unsere Gummersbacher Gruppe ist die größte. Wir haben 22 fest zahlende Mitglieder und noch zwischen fünf und zehn Interessenten, die permanent kommen. Unsere Gruppenstärke ist dienstags sonst immer irgendwo zwischen 18 und 26 Leuten.

Warum sind diese Treffen für die Mitglieder Ihrer Selbsthilfegruppe so wichtig? Bestand vielleicht sogar die Gefahr, dass jemand wegen der Krise rückfällig wird?

Isele: Wir haben einige dabei, die kennen eigentlich nur noch das Blaue Kreuz. Die haben nur noch wenige Freunde. Dann ist das schon wie eine Familie. Wir haben eine Frau dabei, die ist schon um die 80, die sagt: „Ich habe nur Euch. Wenn ich Euch nicht jede Woche sehe, fehlt mir was.“ Wir haben aber auch eine junge Dame dabei, die hat sicherlich das Blaue Kreuz vermisst und hat dann einen Freund gefunden – na ja, der hat zwar wenig mit Alkohol zu tun, aber dafür mit Drogen. Und so ist sie abgerutscht. Gott sei Dank konnten wir sie, als wir die Gruppen wiederaufnehmen konnten, noch auffangen. Ich weiß nicht, was sonst mit ihr passiert wäre. Die Gefahr, dass man rückfällig wird, weil eine gewisse Einsamkeit da ist und weil der Bezug zur Gruppe fehlt, ist schon da.

Es gibt Hinweise, dass gerade in der Corona-Krise mehr Alkohol konsumiert wurde, weil Menschen, die ohnehin einen Hang zum Alkohol haben, in der Situation des Lockdowns noch mehr trinken. Nehmen Sie da schon etwas wahr?

Klaus Witner: Die Gefahr, rückfällig zu werden, ist meines Erachtens nicht größer als außerhalb der Corona-Zeit. Alkohol wird ja an jeder Ecke angeboten. Wenn die Geschäfte zu haben, kann man an die Tankstelle gehen. Da hat sich ja auch nichts dran geändert. Kann sein, dass der Konsum wirklich mehr geworden ist. Doch die, die vor Corona getrunken haben und während Corona trinken, die werden es auch danach noch tun. Die werden jetzt nicht versuchen, die Reißleine zu ziehen und auszusteigen. Wir haben in unserer Gruppe in den Corona-Zeiten keinerlei Rückfall von unseren Teilnehmern erlebt.

Gab es denn neue Anfragen?

Witner: Auch das gab es eben nicht. Ich bin selber Gruppenverantwortlicher für unseren Erstkontakt. Das heißt, da kommen die Leute hin, die das erste, zweite oder dritte Mal bei uns sind. Die betreue ich dann und führe sie so langsam an unsere Themen und Aufgaben heran. Und da hat sich während Corona gar nichts getan.

Die Einsamkeit, die Sie beschreiben: Ist das eine Folge des Lockdowns oder eine, die Alkoholiker allgemein betrifft?

Witner: Das hat mit Corona weniger zu tun. Wenn ein Abhängiger von seinem Suchtmittel loskommt, dann reduziert sich sowieso der Bekanntenkreis. Es liegt in der Natur der Dinge, dass man mit den Leuten von früher nichts mehr zu tun haben will. Um diese Einsamkeit zu überwinden, dafür sind die Selbsthilfegruppen ja gerade da. Da können sie neue Bekanntschaften knüpfen.

Wie hoch ist denn die Schwelle für einen Alkoholiker, mit seinem Problem zu Ihnen zu kommen?

Witner: Ich kann da nur von mir erzählen. Ich bin selbst Alkoholiker und jetzt im 30. Jahr trocken. Ich weiß noch, wie ich schon Jahre, bevor ich überhaupt etwas von Selbsthilfegruppen wissen wollte, gespürt habe, dass mein Trinkverhalten nicht in Ordnung ist. Dass das falsch ist, dass andere anders trinken – und dass ich nicht aufhören kann. Bis ich wirklich etwas geändert habe, brauchte es einigen Druck von außen – selbst der des Arbeitgebers oder dass ich den Führerschein verloren hatte, reichte nicht. Letztlich hat den Ausschlag gegeben, dass meine Frau mir die Koffer gepackt und gesagt hat: „Entweder Du tust was oder Du fliegst hier raus.“ Und selbst da war es anfangs eine reine Alibi-Funktion: Ich gehe in eine Gruppe. Ich versuche, etwas gegen meine Erkrankung zu machen. Aber auch um gegenüber dem Arbeitgeber etwas in der Hand zu haben: „Lass mich in Ruhe, ich tue doch was.“

Isele: Ich denke, die größte Hürde ist das Eingeständnis: Ich bin Alkoholiker. Der Weg vom Gewohnheitstrinker zum Abhängigen ist ganz kurz. Wenn man diesen Schritt nicht mitbekommt, hat man noch gar nicht begriffen, dass man abhängig ist. Das zu begreifen, dauert. Ich habe viele Jahre gebraucht, bis ich das gemerkt habe. Aber auch dann bin ich noch lange nicht auf die Idee gekommen, in die Gruppe zu gehen. Ich wurde sogar entlassen aufgrund von Alkohol. Aber ich weiß bis heute nicht, warum ich damals von heute auf morgen aufgehört habe.

Es war der sogenannte Klick: Ich habe um 8 Uhr noch getrunken und um 5 nach 8 aufgehört. Da war ich sogar schon einige Zeit in der Gruppe. Anfangs konnte ich da nur hingehen, wenn ich vorher erstmal ein Glas Wodka getrunken hatte. Ich habe damals viel Wodka getrunken – drei Flaschen am Tag waren für mich ganz normal. Der Klick, der kam erst später. Heute, 24 Jahre nach dem Klick, kann ich aber sagen, dass ich trocken geblieben bin, weil ich in die Gruppe gehe. Weil ich mir da immer wieder vor Augen führen muss, wie beschissen es mir ging. Das vergisst man sonst relativ schnell. Das mache ich jeden Dienstag.

Wie groß ist denn danach der andere Druck in einer Gesellschaft, in der Alkohol normal ist? Ich meine den „Drink-doch-ene-mit“-Effekt . . .

Isele: Ich hatte da Glück. In meinem Umfeld gab es die nicht – die Leute, die sagen: „Einen wirst Du doch wohl vertragen können.“ Das habe ich nie gehabt, im Gegenteil. In meinem Umfeld haben alle auf mich aufgepasst und mich bestärkt. Die kannten ja auch meinen Konsum vorher. Die haben gesagt: „Klasse, dass Du das geschafft hast.“ Das sind Dinge, die mich auch stark gemacht haben. Aber natürlich blieb die Gefahr. Ganz ehrlich: Je größer die Feste, umso sicherer war ich, nichts zu trinken. Die kleinen netten Momente auf der Terrasse mit zwei Mann bei schönem Sonnenlicht und einem Glas Bier dabei, wo das Wasser noch runterperlt – das waren die schwersten Momente. Aber auch da stehe ich heute drüber.

Wo genau liegt für Sie denn die Schwelle zur Abhängigkeit?

Isele: Natürlich gibt es die Freunde, die mich fragen: Ich trinke jeden Tag zwei Flaschen Bier – bin ich schon abhängig? Das ist aber ganz schwer zu beantworten. Man muss sehr genau in seinen eigenen Körper hineinhören: Muss ich Alkohol trinken, weil mein Körper danach verlangt? Also: Eigentlich will ich gar kein Bier, aber ich trinke mir mal eins. Dann ist es wirklich problematisch. Witner: Man sagt auch immer: Wenn man an jedem Ort und zu jeder Zeit ein gefülltes Glas oder eine geöffnete Flasche nicht mehr stehen lassen kann, ohne ein schlechtes Gefühl zu bekommen, dann sollten alle Alarmglocken läuten. Wie geht es für Ihre Gruppe jetzt in der Corona-Zeit weiter? Isele: Inzwischen können wir uns seit vielen Wochen wieder treffen – natürlich mit den Sicherheitsmaßnahmen. Wir treffen uns nicht in den Räumen selbst, sondern vorher draußen mit Masken. Erst pünktlich um 20 Uhr schließe ich die Tür zum Haus der Selbsthilfe auf, dort ist Desinfektionsmittel vorhanden. Mit Maske gehen wir in die Räume, die vorbereitet sind. An jedem Tisch darf nur einer sitzen, da darf dann die Maske für das Gruppengespräch abgenommen werden. In Räumen, wo man sonst mit 20 Menschen war, dürfen nur noch acht Leute sitzen. Wenn wir mehr als 16 Leute sind, weichen wir auf weitere Räume aus. Und der Gruppenabend ist verkürzt von anderthalb Stunden auf eine Stunde. Danach ziehen wir die Maske wieder auf, verlassen die Räume, jeweils zwei bleiben da und reinigen alles. Wir achten ganz stark auf die Einhaltung dieser Regeln. Denn wir befürchten, dass sonst mit steigenden Infektionszahlen die Gruppenabende wieder gesperrt werden. Und das wäre für manche Mitglieder nicht gut.

Haus der SelbsthilfeDie Corona-Pandemie hat die Selbsthilfe im Oberbergischen stark erschüttert, heißt es von der Selbsthilfe-Kontaktstelle. Das Haus der Selbsthilfe in Gummersbach (Bild) musste für Besucher schließen. Nur das Team der Selbsthilfe-Kontaktstelle konnte vom Büro aus arbeiten. Schwieriger war es für die Gruppen: Viele Gruppensprecher haben viele Stunden mit Ihren Mitgliedern telefoniert, um zu hören, wie es jedem einzelnen geht.

Die meisten Gruppen tauschten sich über soziale Medien aus, einige schrieben E-Mails oder Briefe. Auch andere Gruppen haben wie das Blaue Kreuz Video-Konferenzen ausprobiert. Im Juni konnte das Haus der Selbsthilfe langsam wieder geöffnet werden – mit einem Hygiene-Konzept, dass es erlaubt unter Auflagen wieder Treffen abzuhalten. (kmm)

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