Oberbergs Rettungsdienst will Ersthelfer über das Smartphone vernetzen, um mehr Menschen mit plötzlichem Herzstillstand zu retten.
Ersthelfer-AppIn Oberberg kann der Nachbar bald per Smartphone zum Lebensretter werden

Schon seit Mitte 2022 nutzt die Leitstelle Freiburg/Hochschwarzwald eine Ersthelfer-App – und hat gute Erfahrungen damit gemacht. Experten schätzen, dass bei einem flächendeckenden App-Einsatz in Deutschland jährlich bis zu 10.000 zusätzliche Leben gerettet werden könnten.
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Der Fall ist fiktiv, kann aber überall im Oberbergischen passieren. Michael Müller, Anfang 60, wohnt mit seiner Christa in Engelskirchen, irgendwo auf der Hardt. Beim Mittagessen kippt er plötzlich vornüber. Herzinfarkt. Michael regt sich nicht mehr, er braucht Hilfe und zwar sofort.
Am besten beginnt die Hilfe beim Herz-Kreislauf-Stillstand innerhalb von vier Minuten nach dem Kollaps, heißt es in den Europäischen Leitlinien für Wiederbelebung. Mit jeder weiteren Minute Verzögerung sinken Michaels Überlebenschancen deutlich, der Sauerstoffmangel schädigt seine Organe jetzt irreparabel.
Zuständiger RTW ist bei einem anderen Einsatz
Allerdings ist Christa mit der Ausnahmesituation heillos überfordert. Zumindest wählt sie noch den Notruf. Der Disponent der Kreisleitstelle in Kalsbach verspricht schnelle Hilfe und gibt die Engelskirchener Adresse in den Einsatzleitrechner ein. Tragischerweise ist der am Engelskirchener Krankenhaus stationierte Rettungswagen (RTW) zu einem Unfall auf die Autobahn ausgerückt.
Der nächste RTW muss also her, der aus Lindlar oder der Bielsteiner über die Autobahn. Klar ist: Besagte vier Minuten sind für den Rettungsdienst schon von Grünscheid auf die Hardt sehr sportlich, von Lindlar oder Bielstein aus jedenfalls unmöglich.
300 Fälle von Herz-Kreislauf-Stillstand jährlich in Oberberg
Perspektivwechsel: Benedikt arbeitet als Notfallsanitäter im Rheinisch-Bergischen, ein medizinischer Profi. Er lebt in Ründeroth, hat an diesem Tag frei und will die Zeit im Engelskirchener Freibad verbringen. Wenige Augenblicke nachdem Christa den Notruf gewählt hat, rollt er mit seinem Auto am Haus von Michael und Christa vorbei, nichtsahnend, welches Drama sich hinter der Haustür der Müllers gerade abspielt.
Christa wiederum sieht zwar Benedikts Auto, als sie bangend aus dem Fenster blickt, denkt sich aber nichts dabei. Zu bis zu 300 Fällen von Herz-Kreislauf-Stillstand fährt der oberbergische Rettungsdienst jährlich, berichtete Alexander Höffgen, dessen stellvertretender Ärztlicher Leiter, am Donnerstag dem Gesundheitsausschuss des Kreistags. Die zentrale Frage laute: Wie kann es gelingen, sachkundige Ersthelfer und Hilfesuchende in solchen Momenten eiligst zusammenzubringen?
Die Aktivierung von freiwilligen Ersthelfern ist wie die digitale Weiterleitung eines Hilferufs zu werten.
Die Lösung könnte eine Smartphone-App sein. Menschen, die sich kompetente Erste Hilfe zutrauen, lassen sich im Leitstellen-System registrieren. Gibt es einen konkreten Notfall, alarmiert der Disponent natürlich weiter den Rettungsdienst. Mit einem Mausklick kann er aber zusätzlich auch ein Ortungsprogramm in Gang setzen, das ihm die verfügbaren Ersthelfer in der Nähe des Einsatzortes anzeigt. „Die Aktivierung von freiwilligen Ersthelfern ist wie die digitale Weiterleitung eines Hilferufs zu werten“, veranschaulichte es die Kreisverwaltung in der Vorlage an den Gesundheitsausschuss.
Oberbergs Kreisverwaltung denkt das System noch weiter
In unserem Fall würde Benedikt Nachricht von der Leitstelle erhalten, das Haus der Müllers ansteuern, mit der Wiederbelebung beginnen und sie so lange fortführen bis der Rettungsdienst eintrifft. Und die Kreisverwaltung denkt noch weiter: Im besten Fall wäre nicht nur Benedikt verfügbar, sondern noch ein zweiter oder gar dritter Ersthelfer. Dieser könnte den nächsten automatischen Defibrillator holen, der öffentlich zugänglich ist (im Beispiel den aus der Villa Braunswerth) und ihn zu den Müllers bringen.
Michaels Überlebenschancen würde das alles signifikant erhöhen. „Bei einer Defibrillation innerhalb von drei bis fünf Minuten nach dem Kollaps können Überlebensraten von 50 bis 70 Prozent erreicht werden“, hieß es in der Vorlage. Höffgen machte aber deutlich, dass dieses Zeitfenster eng sei. „Nur acht Prozent der Patienten sind nach solch einer Erkrankung die gleichen wie vorher. Die meisten sterben bislang, das muss man so klar sagen – auch wenn es im Fernsehen meistens gut ausgeht.“
In der Sitzung informierte Alexander Höffgen vom Rettungsdienst, dass solche Apps bereits im Rheinisch-Bergischen und dem Wuppertaler Raum im Einsatz seien. Vier deutsche Anbieter gebe es. Die Alarmierung, Navigation zum Einsatzort, die Kompatibilität mit den gängigen Smartphone-Betriebssystemen und den Datenschutz erfüllten alle Versionen. Große Unterschiede gebe es indes schon bei der Frage, ob und welche Qualifikation Ersthelfer erfüllen müssen.
In jedem Fall seien die Freiwilligen bei ihrem Einsatz versichert – und sie könnten auch im Nachgang Hilfe bekommen, wenn sich Erlebtes bei ihnen eingebrannt habe, so Höffgen. Ohnehin wolle man darauf verzichten, die Helfer bei schwersten Unfällen oder Gewaltverbrechen anzufordern, ihre Unterstützung sei vorrangig für den „normalen“ Herz-Kreislauf-Stillstand am Arbeitsplatz, beim Sport oder zu Hause angedacht.
App könnte 2026 in Oberberg an den Start gehen
Aus der Praxis höre man, dass das Helfernetz funktioniere, wenn mindestens drei Promille der Bevölkerung mitmachten – in Oberberg bräuchte es also etwa 900 Freiwillige, geografisch ordentlich verteilt. Die Kosten beziffert die Kreisverwaltung auf – je nach App-Hersteller – 6000 bis 20.000 Euro für die Anschaffung plus 20.000 bis 40.000 Euro jährlich für die Folgekosten. Dazu komme eine halbe bis ganze Verwaltungsstelle, um das System zu pflegen.
Im ersten Quartal 2026 wird die Kreisleitstelle einen neuen Einsatzleitrechner bekommen. Dann würde die Verwaltung auch gerne die Schnittstelle für die Ersthelfer-App in Betrieb nehmen.