Neue App soll helfenKrankenkassen zahlen nur selten für pferdegestützte Therapie

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Albert Bittner mit Ann-Sophie Stählker und Therapie-Pferd Felix.

  • Bisher wird die pferdegestützte Therapie von den Krankenkassen nur selten übernommen.
  • Der Erfolg der Behandlung sei nicht zweifelsfrei festzustellen.
  • Das könnte sich bald ändern. Die App „Equitedo“ hat die Therapieform messbar gemacht.

Frechen – „Und dann halten Sie da vorne mal an und loben Felix dafür, dass er heute so gut mitmacht“, ruft Ann-Sophie Stählker, Fachkraft für heilpädagogische Förderung am Reit- und Therapiezentrum der Gold-Krämer-Stiftung in Frechen, ihrem Patienten durch die Reithalle zu. Albert Bittner kommt einmal die Woche zur pferdegestützten Therapie. Vor fast acht Jahren erlitt der 70-Jährige einen Schlaganfall und hat seitdem eine linksseitige Schädigung. Das Krankenhaus verließ er damals im Rollstuhl.

Inzwischen kann er wieder gehen und trainiert dies seit drei Jahren mit Therapie-Pferd Felix. „Der menschliche Schritt und der eines Pferdes sind ähnlich. Das heißt, ich kann auf dem Pferd das trainieren, was man auch so im Gehen trainieren kann“, sagt er. Beim Reiten auf Felix stabilisiert der Bergheimer seinen Lenden- und Rückenbereich und schult seinen Gleichgewichtssinn. Über Spiegel in der Reithalle kann er sich selbst überpürfen und sehen, ob sein Körper ausbalanciert ist.

Mensch und Pferd müssen Symbiose bilden

Dadurch kann er auch wieder mehrere Dinge gleichzeitig tun und sich zum Beispiel während der Therapie unterhalten. „Beim Spazieren muss ich mich auf meinen Weg konzentrieren und schauen, ob mir jemand entgegenkommt oder irgendwo Stolpersteine sind. Beim Reiten bin ich multitaskingfähig“, erzählt er. Mensch und Pferd müssen dafür eine Symbiose bilden. Grundvoraussetzung dafür ist gegenseitiges Vertrauen.

Mithilfe spezieller Zügel kann Albert Bittner trotz seiner Beeinträchtigung die entsprechenden Impulse an das Pferd geben, um beispielsweise die Bahn entlang oder eine Volte (Kreis) zu reiten. Statt auf einem Sattel mit Steigbügeln sitzt der 70-Jährige auf einer Decke samt Haltegurt auf dem Hengst. Die Behandlung geht aber über das Körperliche hinaus.

Pferde spiegeln Auftreten von Menschen wider

„Die pferdegestützte Therapie ist ganzheitlich, weil das Körperliche, das Emotionale und das Soziale immer miteinander verbunden sind. Pferde haben die besondere Eigenschaft, dass sie direktes und ehrliches Feedback geben. Felix ist unfassbar sensibel und merkt genau, in welcher Stimmung wir zum Beispiel zur Therapie kommen“, sagt die gelernte Sozialpädagogin Ann-Sophie Stählker.

Pferde spiegeln ehrlich und unvoreingenommen das Auftreten der sie umgebenden Menschen wider. Nervosität könne sich zum Beispiel auf Felix übertragen. Sein Gang wäre dann schneller, die Ohrenstellung eine andere. „Heute ist er aber gut drauf. Er kaut viel, das ist immer ein Zeichen von Wohlbefinden“, erklärt sie.

Krankenkassen übernehmen Kosten in der Regel nicht

Die Kosten für die pferdegestützte Therapie übernimmt Albert Bittner selbst. Krankenkassen zahlen sie in der Regel nicht, weil der Erfolg der Methode nicht zweifelsfrei feststellbar sei. Isabel Stolz möchte das ändern. Sie hat zum Thema Therapeutisches Reiten an der Deutschen Sporthochschule in Köln promoviert.

In einem zweijährigen wissenschaftlichen Prozess am Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport entstand in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten (DKThR) im Rahmen ihrer Doktorarbeit die App „Equitedo“. Sie soll die Wirkfaktoren der Behandlung mit Pferd erfassen und einen Dialog mit Kostenträgern im Gesundheitswesen ermöglichen.

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Sportwissenschaftlerin Isabel Stolz.

„Die pferdegestützte Therapie kämpft gegen den Ruf der Unwissenschaftlichkeit“, sagt die 33-Jährige. Aus diesem Grund übernehmen Krankenkassen aktuell nur selten die Kosten. „Im therapeutischen Reiten gibt es derzeit zu wenig Studien mit hoher methodischer Qualität, welche die Wirkungen der Maßnahmen abbilden können. Dadurch gibt es in Deutschland noch keinen gesichtern Nachweis über die Wirksamkeit der Therapien.“ Patientinnen und Patienten müssen also selber zahlen. Für viele schlicht nicht möglich.

„Es gibt kaum standardisierte Erhebungsverfahren, die die spezifischen Wirkungen der Therapien adäquat abbilden können. Dadurch lassen sich bisherige positive Studienergebnisse nicht verallgemeinern“, sagt Stolz. Es gebe einige gute Ansatzpunkte, aber noch kein System zur Erhebung und Evaluierung der Methode.

Pferdegestützte Therapie bei vielen Erkrankungen anwendbar

So können Therapieverläufe und Dokumentationen zurzeit nicht in einheitlicher Form erfasst und anschließend untersucht werden. Dadurch fehlt es an aussagekräftigen Rückschlüssen über die Effekte der Behandlung.

Dabei kommt die pferdegestützte Therapie bei vielen Erkrankungen in Frage. So kann diese besondere Form der Bewegungstherapie zum Beispiel bei Menschen mit Epilepsie, Schädelhirntrauma oder Multiple Sklerose zu Krampflösungen oder einer Tonisierung der Muskultaur beitragen. Bei Kindern mit psychosozialen Verhaltensauffälligkeiten, wie beispielsweise ADHS oder Aggressionen, kann eine Gruppentherapie zu einer verbesserten Emotionsregulation, Empathie und sozialem Verhalten führen.

App liefert womöglich Argument für Kostenübernahme

Mit der „Equitedo“-App haben Betroffene nun gegenüber der Krankenkasse ein Argument auf ihrer Seite, um zu beweisen, dass die Behandlung ihnen hilft. Als Bewertungsinstrument erfasst sie die Therapieverläufe in einer einheitlichen Form und ermöglicht so verallgemeinernde und belastbare Rückschlüsse über die Wirkung der Behandlung. „Die App schafft die Brücke, um pferdegestützte Therapie mit anderen Maßnahmen aus dem Gesundheitssystem zu vergleichen“, sagt Stolz.

An den drei Standorten, dem Pferdesport und Reittherapiezentrum der Gold Kraemer Stiftung in Frechen, dem Zentrum für Therapeutisches Reiten in Windhagen und dem Zentrum für Therapeutisches Reiten in Köln-Porz, wurden mit rund 30 Therapeutinnen und Therapeuten rund 865 Bewertungen mit der App erstellt und auf ihre Eignung und wissenschaftliche Aussagekraft geprüft.

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Reitpädagogin Désirée Frerich (links) und Sportwissenschaftlerin Isabel Stolz.

„Sie basiert auf der ICF, der Internationalen Klassifikation für Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Behinderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und ist dadurch kompatibel mit Maßnahmen und Abrechnungsweisen des internationalen Gesundheits- und Rehabilitationssystems“, erklärt die Sportwissenschaftlerin. Diese Anknüpfung an internationale Standards kann bei Gesprächen mit Kostenträgern ein entscheidendes Argument sein.

Im Kontext des therapeutischen Reitens sei „Equitedo“ das erste Messinstrument mit dieser Qualität. Dadurch besteht bereits ein großes Interesse daran, die App auch in die englische und spanische Sprache zu übersetzen, was derzeit geschehe.

ICF-Messinstrumente keine Seltenheit im Gesundheitssystem

„So können zukünftig auch international gemeinsame Erkenntnisse generiert werden, um auf der einen Seite das Therapeutische Reiten im medizinischen und bewegungstherapeutischen Kontext weiter zu professionalisieren und zum anderen mehr Akzeptanz in den Gesundheitssystemen zu erlangen“, sagt Isabel Stolz.

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Die App kann die Wirkung der Therapie wissenschaftlich abbilden.

Die Nutzung ICF-basierter Messinstrumente stellt im Gesundheits- und Rehabilitationssystem keine Seltenheit dar. So werden solche Tools zum Beispiel zur Beurteilung alltäglicher Belastungsdimensionen genutzt. In Kliniken dienen sie aber auch zur digitalen Patienten-Organisation in Form von Checklisten und zur Therapieplanung. Die Zahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem Themenbereich hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt.

Auch Ann-Sophie Stählker arbeitet mit der „Equitedo“-App. Alles, was sie vorher handschriftlich über Albert Bittner dokumentiert hat, wird nun digital festgehalten. „Es verbessert die Arbeit, weil es für uns eine Qualitätsüberprüfung ist. Außerdem vergesse ich so nichts, weil die App mich nach der Stunde fragt: Wie war das denn heute mit der Koordination der Gliedmaßen?“, sagt sie.

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Die 27-Jährige würde sich darüber freuen, wenn sich in Zukunft alle Menschen bei Bedarf einer pferdegestützten Therapie unterziehen könnten: „Es würde noch inklusiver werden, weil es zurzeit natürlich eine finanzielle Frage ist. Viele betroffene von körperlichen oder seelischen Krankheiten können sich das nicht leisten und dadurch ist es natürlich irgendwo etwas Exklusives.“

Albert Bittner bringt Hengst Felix am Ende seiner halbstündigen Bewegungstherapie zum Stehen und bedankt sich für einen reibungslosen Ablauf. „Auch, wenn ich nur einmal in der Woche komme, baut man ja eine Beziehung zu dem Tier auf“, sagt er. Ruhig und entspannt sei er mit ihm im Schritt durch die Halle geritten. Auch ein Indiz für das Auftreten des Patienten an diesem Tag.

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