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Interview mit Trauerbegleiterin nach Tod von vier Jugendlichen„Und auf einen Schlag ist die Zukunft weg“

7 min
Einen Brief an eine der vier Verstorbenen liegt an der Unfallstelle im Dürschtal  bei Kürten-Dürscheid.

Einen Brief, wie er an der Unfallstelle im Dürschtal liegt, kann helfen, mit Trauer umzugehen. Über Hilfen nach dem Tod von vier jungen Menschen spricht Trauerbegleiterin Stephanie Witt-Loers im Interview.

Wie Trauerbegleiterin Stephanie Witt-Loers nach dem Unfall mit vier jungen Todesopfern bei Kürten trauernden Jugendlichen hilft – und was sie rät.

Trauerbegleiterin und Autorin Stephanie Witt-Loers betreut seit vielen Jahren Jugendliche in Extremsituationen. Nach dem Verkehrsunfall vom vergangenen Samstag, bei dem vier junge Menschen zwischen 14 und 19 Jahren ums Leben kamen, hat sie eine Anlaufstelle unter dem Titel „#NotAlone“ (Nicht alleine) für betroffene trauernde Jugendliche eingerichtet und berät zudem die Schulen der Verstorbenen, wie sie sich auf den ersten Schultag in der kommenden Woche vorbereiten können. Über Trauerreaktionen, Wege damit umzugehen und die große Aufgabe für eine ganze Region hat Guido Wagner mit der Bergisch Gladbacherin gesprochen.

Jeden Tag kommen im Dürschbachtal an der Unfallstelle neue Blumen, Kerzen und Stofftiere hinzu. Aber das ist sicher nur eine Reaktion, mit Trauer umzugehen?

Ja, häufig denkt man beim Trauern zuerst ans Weinen. Aber das ist nur eine von vielen Trauerreaktion. Manche Menschen können nicht schlafen, sich nicht mehr konzentrieren, auch Lachen kann eine Trauerreaktion sein.

Trauerbegleiterin Stephanie Witt-Loers steht in den Räumen eines Bergisch Gladbacher Bestatters.

Seit vielen Jahren engagiert sich Trauerbegleiterin Stephanie Witt-Loers mit ihrem in Kooperation mit dem Deutschen Roten Kreuz betriebenen Projekt „Leben mit dem Tod – Trauernde Familien begleiten“ für trauernde Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien.

Lachen?

Ja, Lachen ist eine normale Reaktion, wenn Menschen überfordert sind. Es ist wichtig, zu wissen, dass das eine Reaktion auf Trauer sein kann. Deshalb bereiten wir für die Schulen gerade Plakate vor, die neben Hilfen unter anderem über mögliche Trauerreaktionen informieren. Denn es gibt durchaus tabuisierte Reaktionen – wie eben das Lachen. „Man lacht doch nicht, wenn jemand gestorben ist“, heißt es dann vielleicht. Aber tatsächlich ist es wichtig, auch solch eine Reaktion als Trauer zu erkennen und zuzulassen. Für uns alle ist es wichtig, solche Reaktionen zu akzeptieren und nicht zu bewerten. Denn auch solche Reaktionen haben ihre Berechtigung. Betroffene schämen sich ohnehin, wenn ihnen das passiert. Und Trauerreaktionen hören längst nicht bei Emotionen wie beispielsweise Verzweiflung, Angst, Hilflosigkeit auf.

Ist Trauer nicht immer eine Emotion?

Nein, Trauerreaktionen können auch im Denken stattfinden.

Was sind das im konkreten Fall dieses Unfalls für Gedanken?

Als Trauerreaktion können Gedankenkarussells entstehen. Etwa Fragen wie: Wer trägt die Schuld? Wie hätte das verhindert werden können?

Warum ist die Frage nach der Schuld so wichtig?

Schuld gibt uns eine Erklärung für das, was passiert ist. Durch Schuld können wir uns vom Geschehen distanzieren. Wir tragen keine Schuld, und sind vielleicht auch ganz dankbar dafür und denken, dass uns das ja nicht passieren kann. Aber es kann auch dazu führen, dass der Beschuldigte und vielleicht sogar sein Umfeld noch stärker daran zu tragen haben.

Blumen, Kerzen und andere Zeichen der Trauer in der Unfallkurve der Dürschtalstraße in der am Samstag, 16. August, vier Teenager bei einem Autounfall ums Leben kamen.

Blumen, Kerzen und andere Zeichen der Trauer in der Unfallkurve der Dürschtalstraße in der am Samstag, 16. August, vier Teenager bei einem Autounfall ums Leben kamen.

Was kann helfen, das Gedankenkarussell mit der Frage der Schuld zu bremsen?

Als erstes hilft, dass wir bei den Fakten bleiben, wir uns eben nicht daran beteiligen, zu spekulieren und Gerüchte zu verbreiten. Wenn wir dabei bleiben, was Staatsanwaltschaft und Polizei bei ihren Ermittlungen herausfinden und veröffentlichen, auch wenn das sicher ein längerer Prozess ist.

Für den braucht man als Trauernder sicher besonders viel Geduld, oder?

Geduld ist hier ein wichtiger Punkt. Und Nachsicht mit uns selbst im Trauerprozess. Wir sollten auch andere in ihrer Trauer nicht bewerten oder Erwartungen an sie stellen, wie richtig zu trauern sei. Es gibt kein richtiges und falsches Trauern. Auch die Verstorbenen sollten wir nicht verurteilen. Es waren Jugendliche, die in dieses Auto eingestiegen sind, das der 16-Jährige gefahren hat. Es hätten auch unsere Kinder sein können.

Der Gedanke ging meine Frau und mich als Eltern auch gleich am Anfang mit durch den Kopf.

Sehen Sie?! So gibt es neben unterschiedlichen Trauerreaktionen auch unterschiedliche Anlässe   um zu trauern – auch in diesem konkreten Fall. Es wird sicherlich viele Schüler geben – und einige davon sind ja bei uns in Begleitung –, die selber schon Verluste erlebt, etwa Angehörige verloren haben. Und diese Verluste beeinflussen den Trauerprozess, der aktuell dazugekommen ist, auch nochmal.

Das heißt jeder trauert anders schon von seiner eigenen Biographie her?

Ja, und das macht es, glaube ich, gerade jetzt, wo wir so eine große Gemeinschaft an Trauernden haben, auch schwierig, Toleranz und den Respekt dafür aufzubringen, dass jeder anders trauert und andere Bedürfnisse in seiner Trauer hat.

Kerzen und Blumen stehen unter einer Leitplanke der Straße, auf der am Samstag (16.8.) der Unfall bei Kürten-Dürscheid geschah.

Auf beiden Seiten der Straße, auf der der Unfall bei Kürten-Dürscheid geschah, stehen Kerzen und Blumen, die an die hier verstorbenen vier jungen Menschen zwischen 14 und 19 Jahren erinnern sollen.

Wie kann man so vielen Betroffenen helfen?

Indem wir erst einmal zu Trauerprozessen informieren und dann unterschiedliche Angebote machen. Wenn man jetzt Menschen fragt, die ganz frisch betroffen sind „Was brauchst du denn?“ Dann können die häufig gar nicht sagen, was sie brauchen. Die kennen sich erstmal gar nicht in dieser neuen Situation. Es braucht erstmal ein eigenes Kennenlernen in dieser außergewöhnlichen Situation. Und da ist eben das Wichtigste Zeit und   Toleranz für jede Form der Trauerbearbeitung.

Und was hilft, wenn man sich selbst in der Trauersituation angekommen erlebt?

Neben Informationen gut für sich zu sorgen und Kraftquellen zu finden. Auch das kann ganz unterschiedlich sein: Der eine geht Fußball spielen, der andere gräbt lieber den Garten um, der nächste geht in seinen Lieblingsclub, der nächste zieht sich zurück. Und manchmal sind die Bedürfnisse auch schwankend und unterschiedlich von einem Tag auf den anderen oder von einer Stunde auf die andere.

Fünf Schulen haben mittlerweile um Unterstützung bei Ihnen angefragt, weil sie in der kommenden Woche am ersten Schultag trauernde Freunde, Bekannte, manchmal sogar Verwandte der verstorbenen Jugendlichen erwarten. Was können sie tun, um den Trauernden Hilfen zu bieten?

Wir haben das Glück, dass mehrere Schulen schon in den vergangenen Jahren Fortbildungen bei mir gemacht haben und dass wir in einem multiprofessionellen Team arbeiten – auch mit dem Opferschutz der Polizei. Aktuell besprechen wir mit den Lehrerinnen und Lehrern unter anderem , wie man den ersten Schultag gestaltet . . .

Was ist da besonders wichtig?

Erst einmal die Nachricht zu vermitteln, dass dort jetzt ein Stuhl leer ist, dass die Schülerin oder der Schüler nicht mehr wiederkommt. Ganz sachlich und ohne Adjektive wie „schrecklich“ oder „grausam“. Am besten diese Nachricht immer zu zweit einer Klasse oder Gruppe vermitteln. Wenn einer nicht mehr sprechen kann, kann der andere einspringen. Und Taschentücher dabei zu haben, ist auch eine gute Geste. Um zu zeigen: Ich bin auch darauf vorbereitet, dass jemand weint – und diese Reaktion ist auf jeden Fall ganz normal und in Ordnung. Und dann braucht es vor allem Zeit.

Zeit wofür?

Zeit, um zu realisieren, was da passiert ist. Zu verstehen, dass derjenige wirklich nicht mehr wiederkommt. Vielleicht geht einem durch den Kopf: Eigentlich wollte ich doch mit dem noch das und das machen oder vielleicht wollte ich mich mit dem doch noch vertragen oder mit dem eine coole Sache unternehmen – und auf einmal ist mit einem Schlag diese Zukunft weg. Und man steht vor der Endlichkeit des Lebens, mit der man sich vielleicht noch nie selbst auseinandergesetzt hat. Und dann ist diese Endlichkeit da – gleich vierfach bei diesem Unfall.

Was hilft in solch einer Situation?

Sich darüber auszutauschen. Deshalb bieten wir auch die offene, kostenlose Gruppe „#NotAlone“ an (siehe Infokasten), deshalb richten Schulen eigene Trauerräume ein.

Trauerbegleiterin Stephanie Witt

Für ihr Kooperationsprojekt mit dem Deutschen Roten Kreuz „Leben mit dem Tod – Trauernde Familien begleiten“ ist Stephanie Witt-Loers (2.v.l.) auch schon mit der Ehrennadel der Stadt Bergisch Gladbach ausgezeichnet worden.

Und wenn jemand nicht über die eigene Situation sprechen möchte?

Wichtig ist, wenn der Tod plötzlich ins Leben hereingebrochen ist, die Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit nicht stehen zu lassen, sondern dass man aktiv wird.

Wie kann man aktiv werden?

Wenn man nicht sprechen kann, was auch ganz normal sein kann, dann kann man vielleicht einfach zum Unfallort fahren, eine Kerze hinstellen oder einen Brief schreiben, an den, der gestorben ist: Was wollte ich dir eigentlich noch sagen? Oder was wünsche ich dir, da wo du jetzt bist? Oder vielleicht andere Dinge zu gestalten. Oder auch Sport zu treiben: Auch da merke ich: Ich kann mit meinem Körper noch was machen. Ich bin jetzt nicht hilflos eingefroren, sondern ich kann noch was machen.

Wie geht es mit der Trauer dann weiter?

Früher propagierte man, dass es Trauerphasen gibt, die man durchläuft. Aber so ist es nicht.

Sondern?

Das Phasen-Modell implizierte: Jetzt durchlaufe ich die Phasen und am Ende ist es abgeschlossen. Vielmehr ist Trauer ein Prozess, der in Bewegung ist, der sich auch immer wieder verändern kann. An Wendepunkten, die im eigenen Leben passieren, muss ein Verlust häufig nochmal neu in die eigene Biografie eingebettet, einsortiert werden.

Also kann Trauer immer wieder hochkommen?

Ja, ich muss mich immer wieder damit auseinandersetzen, verändere mich als Person, hinterfrage mich und meine Werte auch immer ein Stück: Was ist mir eigentlich wichtig im Leben? Ist es mir wichtig, schnell Auto zu fahren? Oder merke ich jetzt nach dem, was passiert ist, dass ich vielleicht doch vorsichtiger fahren möchte, um mein Leben zu schützen und das Leben anderer?

Heißt das, dass man an Trauer auch selbst wachsen kann?

Ich würde sagen, es ist ein Lern- und Anpassungsprozess, der uns hilft zu überleben. Wichtig ist, dass wir uns Zeit geben – und anderen auch. Und sicher werden wir auch damit leben müssen, dass wir vielleicht nicht auf alle Fragen Antworten finden. Auch diese Erkenntnis kann helfen.