Zeitzeugen-ProjektSchüler auf den Spuren der Bergheimer Juden

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Astrid Machuj vom Bergheimer Geschichtsverein führt die Jugendlichen über den jüdischen Friedhof.

Was macht jüdisches Leben aus? Das wollten Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Bergheim in einer Projektwoche mit Unterstützung des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek herausfinden. Im Rahmen der „Jüdischen Kulturwochen im Rhein-Erft-Kreis“ hat der Q1-Zeitzeugen-Projektkurs unter Leitung der Lehrerin Elisabeth Amling drei Jüdinnen interviewt – Inessa Burdsgla, Inhaberin der Bergheimer Tanzschule Belaro, die im Alter von zwölf Jahren aus der Ukraine mit ihrer Familie nach Deutschland kam, Nancy Schnog aus den USA, deren Uropa Arnold in Bergheim geboren wurde, sowie Dr. Dana Seewi, die in Köln lebt und aufgewachsen ist.

Schnog – komischer deutscher Nachname

Die neue Bergheimer Stadtarchivarin Lena Delbach war in diesem Juli gerade frisch im Amt, als sie einen Anruf von Nancy Schnog (63) aus den USA erhielt: Auf Spurensuche nach ihren deutschen Vorfahren wollte sie wie zuvor schon ihr Vater Alfred den jüdischen Friedhof an der Bethlehemer Straße besuchen.

Ihr Uropa Arnold Schnog ist am 6. April 1871 in Bergheim geboren und lebte später mit seiner Frau Friederika und den beiden Kindern Selma und Ludwig, Nancys Großvater, in Köln. Dem Schneidermeister und seiner Familie war Ende der 1930er Jahre noch die Flucht nach Amsterdam gelungen, wo er am 28. Mai 1943 angesichts der bevorstehenden Deportation an einem Herzinfarkt starb. Seine Frau und seine Tochter wurden 1943 kurz nach ihrer Ankunft im Vernichtungslager Sobibor im von NS-Deutschland besetzten Polen ermordet

Sohn Ludwig, Jahrgang 1903, überlebte: Er emigrierte 1940 mit seiner Frau Margaret und den gemeinsamen Kindern, den damals neunjährigen Zwillingen Alfred und Norbert, in die USA. Während der stolze Amerikaner nach dem Trauma des Holocausts mit Deutschland anfangs nichts mehr zu tun haben wollte, begann Nancys Vater später mit Nachforschungen zu seiner Familiengeschichte. Der Brief einer Schülerin der alten Schule seines Vaters (das Realgymnasium in Deutz – das heutige Gymnasium Schaurtestraße) führte ihn 2018 in seine Geburtsstadt Köln und nach Bergheim.

Am jüdischen Friedhof in der Bethlehemer Straße wurde Alfred Schnog allerdings erst einmal jäh ausgebremst: Das Tor ist abgesperrt, der Schlüssel wird im Stadtarchiv für Führungen aufbewahrt. Sein hohes Alter hinderte den 87-Jährigen nicht daran, beherzt über die Friedhofsmauer zu springen, um das Grab seiner Bergheimer Ahnen zu besuchen.

Die Kontakte nach Deutschland rissen seitdem nicht ab – „so langsam fühle ich mich auch ein bisschen als Bergheimerin“, verriet Nancy Schnog den Jugendlichen im Videochat. Sie führt die Recherchen ihres Vaters weiter, ihr Besuch in Bergheim im Sommer führte sie auch zu den Stolpersteinen am Elternhaus ihres Großvaters Ludwig in der Lorenzstraße 5 in Deutz.

„Ich bin eine schreckliche Jüdin – nicht sehr gläubig, aber es gehört einfach untrennbar zu mir dazu“, gestand die pensionierte Englisch-Lehrerin, die in Maine lebt. Verheiratet mit einem Israeli, hat sie den „komischen deutschen Nachnamen“ behalten. „Ich bin und bleibe Schnoggy – das ist unaussprechlich.“ Ihre Tochter lebt in Tel Aviv und hat die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen – etwas, das Nancy sehr freut und mit der Vergangenheit versöhnt. Stolz ist sie auch auf den bekannten Cousin ihres Großvaters, Karl Schnog, der das KZ Buchenwald überlebte und sich als Autor, Journalist, Theaterregisseur und Kabarettist einen Namen machte. Er starb 1964 in Ost-Berlin.

„Ich will mich nicht mehr verstecken“

Für Inessa Burdsgla, die seit 2012 mit ihrer Tochter in Bergheim lebt, waren die „Jüdischen Kulturwochen“ 2021 der Anlass, sich zum ersten Mal öffentlich zu ihren Wurzeln zu bekennen. Geboren 1979 in Kiew, kam sie mit ihren Eltern Anfang der 90er Jahre nach Deutschland. Georgisch-orthodox getauft und mit nicht-jüdischem Nachnamen war sie es gewohnt, ihren Glauben aus Angst vor Anfeindungen geheim zu halten.

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Bei einem Tanz-Workshop mit Inessa Burdsgla näherte sich der Zeitzeugen-Projektkurs dem Thema auf Socken.

In Deutschland wähnte sich die junge Ballettschülerin zunächst in Sicherheit, wurde dann aber wegen ihres Davidsterns von Jugendlichen angepöbelt. „Ich trage meine Halskette heute nicht mehr“, sagt Inessa. Ihr Outing fanden viele sehr mutig, anfangs habe sie jedoch auch Angst gehabt: „Eine Zeit lang habe ich die Türen und Fenster überprüft, wenn ich nach Hause kam.“

Ganz andere Probleme hat sie gerade mit den deutschen Ämtern: Nach ihrer Scheidung will sie ihren Ehenamen „Bergs“ ablegen und den Familiennamen ihrer Großeltern mütterlicherseits annehmen - „von Berge“, weil das väterliche „Burdsgla“ ihre jüdische Herkunft verschleiere. „Ich will mich nicht mehr verstecken, aber auch keine Angriffsfläche bieten.“ Auf Grund des Krieges in der Ukraine kann sie jedoch keine Unterlagen beibringen und kämpft bislang vergebens um eine Anerkennung.

Auf der Seite der Minderheit

Da es in Bergheim keine jüdische Gemeinde mehr gibt und nur noch wenige Zeitzeugen, nahmen die Jugendlichen das Angebot gern an, mit der Kölnerin Dr. Dana Seewi darüber zu sprechen, wie es ist, als Jüdin in Deutschland aufzuwachsen. Als Kind habe sie sich oft als Außenseiterin gefühlt, auch Beschimpfungen waren ihr nicht fremd. Ihre Mutter, Margot Rapp, war als 13-Jährige im Januar 1940 aus dem baden-württembergischen Weinheim mit einem der letzten internationalen Kindertransporte nach Haifa, Palästina, gekommen.

1960 kehrte sie mit ihrem Mann David Seewi, den sie als Erwachsene in Israel kennen gelernt hatte, und den beiden ersten von sechs Kindern nach Deutschland zurück. Wie ihr 1998 verstorbener Vater, einem gebürtigen Berliner, arbeitet die promovierte Betriebswirtin bei Ford in Köln, sie heute im Bereich Finanzen/Produktentwicklung, er damals als Ingenieur.

„Ich bin nicht religiös, fühle mich dem Judentum aber natürlich sehr verbunden durch die Geschichte meiner Eltern und Großeltern“, sagt die 56-Jährige. So stelle sie sich selbst fast automatisch immer auf die Seite der Minderheit – auch privat engagiert sich Dana Seewi für mehr Vielfalt, Chancengerechtigkeit und gegen Ausgrenzung. Einen Rat gab sie den Schülerinnen und Schülern noch mit auf den Weg: „Lauft nie einfach der Mehrheit hinterher – die Geschichte darf sich nicht wiederholen.“

Die Recherche-Ergebnisse der Jugendlichen sind auf der Webseite der Stadt nachzulesen.

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