„12 Uhr mittags“Jüdischer Friedhof in Kerpen ist ein Ort im Dornröschenschlaf

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Auch wenn das leicht verrostete Eingangstor weit offensteht, wirkt der Friedhof wie ein verwunschener Ort im Dornröschenschlaf. 

Kerpen – „Du warst ein Engel mir im Leben und bist es auch im Tode noch, wirst mir als Engel droben schweben bis einst der Herr vereint uns doch.“ Sophia Leiser, 1861 in Madison, USA, geboren und 1921 in Bonn gestorben, scheint ein besonders geliebter Mensch gewesen zu sein. Als „meine unvergessliche liebe Frau“ bezeichnet ihr Ehemann sie auf ihrem Grabstein, begleitet von dem anrührenden Spruch. Und auch ihre Grabstätte auf dem jüdischen Friedhof Kerpen sticht hervor: Sie ist am besten erhalten und wohl auch am häufigsten besucht, denn auf dem Grabstein liegen viele kleine und mittlere Steine – Grabschmuck, den Juden anstelle von Blumen bei einem Friedhofsbesuch mitbringen.

Besuch gibt es anscheinend sonst nicht allzu viel, denn auch wenn das leicht verrostete Eingangstor weit offensteht, wirkt der Friedhof wie ein verwunschener Ort im Dornröschenschlaf. Und das zudem an einer Stelle, wo er so überhaupt nicht hinpasst. Mitten im neu erbauten Gewerbegebiet liegt er versteckt an der Straße Auf dem Bürrig, surreal umgeben von zweckmäßigen Industriebauten und asphaltierten Großparkplätzen. Sogar zur Mittagsstunde brausen unablässig Lastkraftwagen, Liefer- und Kundenfahrzeuge an dem mit einer Hecke umzäunten Friedhof vorbei – das trubelige Leben rund um hektischen Konsum und Fabrikation steht im krassen Kontrast zu der Ruhe und Geborgenheit, die die Grabstätten ausstrahlen.

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Es ist üblich, dass Menschen jüdischen Glaubens beim Friedhofsbesuch Steine mitbringen.

Alter Baumbestand, wilde Hecken, wuchernde Efeuranken, bemooste Grabsteine und eine einzelne Bank vermitteln eine geschützte Atmosphäre – ganz nach den jüdischen Gepflogenheiten, dass Friedhöfe heilig sind und niemals aufgelöst werden dürfen. Die dauerhafte Totenruhe gilt als verbindlich.

Kerpen: Natur ergreift die Oberhand

Und so ergreift auch hier in Kerpen die Natur langsam, aber sicher die Oberhand. Zwar werden die Hecke und der Rasen vom Friedhofsamt der Stadtverwaltung gepflegt, ansonsten aber wird alles dem Lauf der Zeit überlassen. So gibt es verwitterte, schon unlesbare Grabsteine, die umgestürzt sind oder mühsam abgestützt werden.

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Versteckt und verwunschen liegt der jüdische Friedhof in Kerpen inmitten eines neu gebauten Gewerbegebietes.

Maulwürfe bauen unbehelligt ihre kleinen Hügel, Insekten schwirren auf die Blüten. Efeu, Moos und Unkraut wachsen über die Steine und lassen die Inschriften unleserlich werden – eigentlich gespenstisch, aber doch so ruhig und im Einklang, dass man das Gefühl hat, die Toten seien hier besonders gut und sicher aufgehoben.

Jüdischer Friedhof in Kerpen der größte in Rhein-Erft

Sie scheinen eine eingeschworene Gemeinschaft zu bilden, die miteinander die Ewigkeit teilt. Und auch, wenn es keine wirklichen Treffen mit anderen Menschen an diesem vergessenen Ort gibt – so erlaubt er doch eine Menge zwischenmenschlicher Begegnungen: Die noch lesbaren Inschriften laden zum Spekulieren ein. Was für eine Persönlichkeit ist dieser Mensch gewesen? Welches Schicksal hat ihn ereilt? Welche Angehörigen haben um ihn getrauert? Unweigerlich kommen die eigenen bereits verstorbenen Lieben in den Sinn und auch die Frage, wie die eigene Grabstätte einmal gestaltet sein soll.

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Dieser jüdische Friedhof, mit knapp 90 Grabstätten der größte im Kreisgebiet, wurde wohl von 1852 bis 1938 genutzt. Und so bleibt zu hoffen, dass zumindest einigen, die dort bestattet wurden, die schauerlichen Nazi-Gräuel erspart blieben. Sophia Leiser zumindest war hoffentlich eine von ihnen.

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