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Erlebte selbst, wie es sein kannNotfallseelsorger gibt in seinem Buch tiefe Einblicke in seine Arbeit

6 min
Die Begleitung der Familien von Gewaltopfern geht manchmal bis weit über die Beerdigung hinaus.

Die Begleitung der Familien von Gewaltopfern geht manchmal bis weit über die Beerdigung hinaus.

Albi Roebke hat mit einer Journalistin ein Buch über Schicksalsschläge, Hoffnung und die Möglichkeiten der Notfallseelsorge geschrieben.

Albi Roebke ist ein echter Typ. Hager, fast schon asketisch, schaut er sein Gegenüber mit intensivem Blick an. In den Ohren Silberringe ist er sogar nicht der klassische Typ Pfarrer. Und doch ist er das vielleicht bekannteste Gesicht der Notfallseelsorge Bonn/Rhein-Sieg. Es gibt wohl niemand, der das so authentisch leben kann wie er. Denn bei einem Unfall wurden seine Eltern und sein Bruder getötet.

„Und plötzlich ist nichts mehr wie es war“, das hat er selbst erlebt. Genau so heißt das Buch, das er mit der Journalistin Lisa Harmann geschrieben hat und das am Mittwoch, 24. September, erscheint. „Die Mangos werden schlecht“, das war sein erster Gedanke an jenem 1. Juni 2015, als ihn ein Nachbar seiner Eltern anrief.

Vater, Mutter und Bruder sind bei einem Unfall gestorben

„Sorgen“ und „Beileid“, die beiden Wörter sind bei ihm hängen bleiben. Er geht ins Internet und findet einen Bericht über den Unfall eines Ehepaares mit ihrem erwachsenen Sohn. Über einen Toten steht da was geschrieben. Er ruft die Handynummer seiner Mutter an, die Polizei meldet sich. Der Tote ist sein Vater, inzwischen ist seine Mutter auch gestorben, sein Bruder liegt im kritischen Zustand auf der Intensivstation, stirbt eine Woche später an seinen Verletzungen.

Roebke beschreibt exemplarisch am eigenen Beispiel, was gut und was schieflaufen kann nach einem Ereignis, das das Leben von einem Tag auf den anderen in ein Davor und ein Danach teilt. Vielleicht ist es Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet er, der 15 Jahre lang schon für Beistand bei der Überbringung von Todesnachrichten sorgte, allein vor seinem Rechner von dem schweren Unfall erfährt.

Das sieht ja aus wie in Lenins Mausoleum.
Albi Roebke, der die Stimme seiner toten Mutter hörte

Er beschreibt, wie er lachend losprusten muss, als er seine Eltern im Bestattungsinstitut aufgebahrt sieht. Er hat die Stimme seiner Mutter im Ohr, keine Vorstellung, sondern ganz real: „Das sieht ja aus wie in Lenins Mausoleum.“ Er weiß, dass eine solche Reaktion normal ist, weil jeder Mensch anders reagiert auf Situationen, die eigentlich nicht aushaltbar sind.

Das Buch zeigt an vielen Geschichten, manche haben die Region, andere ganz Deutschland bewegt, wie die Notfallseelsorge in der Akutphase direkt nach dem Ereignis Kriminalitäts- und Unfallopfer, Zeugen, Angehörige von plötzlich Verstorbenen und solchen, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, als sich das Leben zu nehmen, begleitet. Es sind vor allem Einsätze, die darüber hinaus gehen, und die die Handelnden Neues lehren. Roebke spricht von der unsichtbaren Gemeinde, für die er Gemeindearbeit macht. 

Der Koordinator der Notfallseelsorge Bonn/Rhein-Sieg, Albi Roebke, hat mit der Journalistin Lisa Harmann ein Buch geschrieben.

Der Koordinator der Notfallseelsorge Bonn/Rhein-Sieg, Albi Roebke, hat mit der Journalistin Lisa Harmann ein Buch geschrieben.

Denn er ist Angestellter der evangelischen Landeskirche. Zu 75 Prozent ist er freigestellt für die Koordination der Notfallseelsorge, zu 25 Prozent arbeitet er in einer Gemeinde. Er bildet zudem ehrenamtliche Notfallseelsorgerin und -seelsorger aus, die er auf Einsätze vorbereitet. Die Fälle in dem Buch sind Teil dieser Ausbildung, weil sie exemplarisch sind für das, was Menschen erleben, was sie brauchen, was ihnen gut tut.

Dabei hat er Lisa Harmann kennen gelernt, Journalistin aus Overath. Sie stellte ihm die Idee eines Buches vor, weil es so etwas noch nicht gab. Roebke hat das zunächst abgetan, eher als Gag verstanden. Doch sie schrieb ein Exposé, das ihn überzeugte. Vier Wochen hat er drüber nachgedacht, ob er es überhaupt machen soll. Nach seinem „Go“ schickte Harmann die Skizze dem Fischer-Verlag zu. Der sagte nur 14 Tage später zu.

Die Geschichten vermitteln wichtige Botschaften für Menschen in ähnlichen Situationen

Ein Jahr lang haben die beiden an dem Buch gearbeitet. Sie haben die Menschen, deren Geschichte erzählt wird, besucht und geben ihnen Raum, ihr Erleben darzustellen. Sie alle haben eine Botschaft, werden nicht als Fallbeispiele im klinischen Sinne vorgeführt. 

Da ist Eva, die ihre Tochter Tea verloren hat. Ihr Onkel hatte sie mit KO-Tropfen betäubt und sexuell missbraucht. Sie starb am Gift, das sie geschluckt hatte. Roebke zeigt den behutsamen Weg, den Notfallseelsorge geht. „Schweigend mit aushalten ist eine der aktivsten Tätigkeiten“, sagt der 57-Jährige. Für die Mutter vieles drum herum zu organisieren, ihr erklären, was passiert, sowohl die Arbeit der Polizei wie das, was bei einem solchen schockierenden Geschehen im noch nicht Trauernden abläuft, ohne ihr die Eigenmächtigkeit zu nehmen. 

Mit Eva ist er heute befreundet, sie hat Psychologie studiert. „Es ist so sinnlos, sie möchte dem Sinn abringen“, erzählt Roebke. Sie hat ihm reflektiert, was ihr geholfen hat, was nicht. Er hat ihr viel Kraft gewünscht, aber genau das brauchte sie nicht. „‚Ich wäre gerne zusammengebrochen‘, hat sie mir später berichtet“, so der Pfarrer, der auch schon mal mit der Harley-Davidson in Lederkluft zur Einsatzstelle kommt.

Auf jedem Misthaufen sollen Blumen wachsen.
Robert, Vater der ermordeten Hannah

Der Mord an Hannah wird nachgezeichnet, der 2007 Königswinter erschüttert hat. Die Vierzehnjährige war vergewaltigt und anschließend getötet worden. Tage lang war sie vermisst, wurde schließlich in der Nähe ihres Elternhauses gefunden. Volker, ihr Vater gründete eine Stiftung, um Menschen zu unterstützen, die Opfer sexualisierte Gewalt wurden. „Auf jedem Misthaufen sollen Blumen wachsen“, hat er einmal gesagt. Vergeben kann er nicht, aber dem Verursacher will er nicht zu viel Platz einzuräumen.

Roebke und er wurden Freunde, ungewöhnlich, vielleicht nicht wirklich professionell, aber authentisch und gut. Chrissie erzählt ihre Geschichte, ihr Vater hat die Mutter getötet und sie im Fundament des Weinregals in Beton gegossen. Fünf Jahre erzählte er, sie hätte die Familie verlassen. Die Tochter glaubt nicht daran, sorgt dafür, dass der Fall neu aufgerollt wird. Die Polizei findet die Leiche, Chrissie ist Tochter von Täter und Opfer zugleich.

Das Thema Selbstwirksamkeit, die Möglichkeit, in einer Situation selbst Entscheidungen treffen zu können, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, neben Psychoedukation und Information. Ein überzeugendes Beispiel ist die damals zehn Jahre alte Anna. Ihr Vater hat die Mutter getötet, sie war Zeugin. In der Akutphase ist nichts mehr wie es war, noch ist der Tod nicht wirklich angekommen. Da darf sie eine Pizza bestellen, nach Herzenslust selbst ausgewählt. Diese Entscheidung, diese Mitbestimmung ist ein erster Schritt hinaus aus der Ohnmacht, in einer Welt der zeitweiligen Unkontrolliertheit.

„Und plötzlich ist nichts mehr wie es war“ ist keine wissenschaftliche Abhandlung, kein psychologischer Ratgeber. Gleichwohl vermittelt das Buch tiefe Kenntnisse über die menschliche Psyche und ihre Reaktionen auf Ausnahmesituationen. Es ist kein Lehrbuch für angehende Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger, obwohl es ihnen viel vermitteln kann. Es ist ein Text für jeden und jede über ein Thema, das, wie der Tod, noch weitgehend tabuisiert ist.


„Und plötzlich ist nichts mehr wie es war – Ein Notfallseelsorger über Schicksalsschläge und Hoffnung“, Albi Roebke und Lisa Harmann, Fischer-Verlag, ISBN 978-3-7587-0021-7, Paperback: 18 Euro, erscheint am 24. September.