Klassiker, den kaum jemand kenntDiese Bedeutung hat das Grundgesetz für Menschen in Rhein-Sieg

Lesezeit 4 Minuten
Ein Grundgesetz steht in einer Fußgängerzone.

Das Grundgesetz feiert Geburtstag: Es wurde vor 75 Jahren erlassen. (Symbolbild)

Artikel 1 ist vielen geläufig – aber darüber hinaus wird es dünn, wie eine Umfrage unter Menschen in Siegburg zeigt.

Das Grundgesetz wird am heutigen Donnerstag 75 Jahre alt und ist seit jeher Grundlage der Demokratie in Deutschland. Ein Klassiker, dessen Inhalt jedoch kaum jemand kennt. Artikel 1, „die Würde des Menschen ist unantastbar“, ist vielen geläufig – aber darüber hinaus wird es dünn, wie eine Umfrage unter Menschen in Siegburg zeigt.

Für Tim Stocksiefen bedeutet das Grundgesetz „eine gewisse Form von Freiheit.“ Das komme ihm als erstes in den Sinn. Er nimmt das kleine Buch, herausgegeben vom Deutschen Bundestag, in die Hand und blättert darin. „Artikel 1 kennt man, an die anderen erinnert man sich, wenn man sie sich in den Kopf ruft“, sagt der 35-Jährige. „So ein Buch zu Hause habe ich jedenfalls nicht. Vielleicht schaue ich mal in der Buchhandlung nach, die sollten es eigentlich immer vorrätig haben“, meint er.

80-Jähriger aus Sankt Augustin ist gegenseitiger Respekt besonders wichtig

Erika Wink aus Sankt Augustin ist mit 80 Jahren sogar etwas älter als das Grundgesetz – und damit in einer Zeit geboren, als es in Deutschland keine Grundrechte gab. Die Nazis hatten einen totalitären Staat errichtet, in dem sich jeder unterzuordnen hatte. „Es hat sich seitdem sehr viel getan, auch für die Frauen“, sagt Wink, für die das Grundgesetz Freiheit, Gerechtigkeit und vor allem Rechtssicherheit bedeutet.

Ein Mann hält ein Grundgesetz in der Hand.

Tim Stocksiefen, 35, hat keine Ausgabe des Grundgesetzes zu Hause, will sich aber eine in der Buchhandlung besorgen.

„Auch wenn Recht haben nicht immer Recht bekommen bedeutet, sehe ich keine Nachteile im Grundgesetz. Man fühlt sich angenommen und aufgehoben“, sagt die Rentnerin. Sie hoffe, dass es weiter viele engagierte Leute gebe, die sich politisch betätigten. „Viele sagen, das sei ihnen egal, aber wir leben in einer Gesellschaft, in der wir uns vertrauen und Respekt voreinander haben müssen. Das sollten wir ernst nehmen und genau das ist im Grundgesetz festgehalten“, meint sie. „Wichtig ist, dass sich die Leute daran halten und sich gegenseitig zuhören, um gemeinsam eine Lösung zu finden.“

Eine Frau hält ein Grundgesetz in der Hand.

Erika Wink, 80, aus Sankt Augustin, ist sogar fünf Jahre älter als das Grundgesetz. Für sie bedeutet es Freiheit, Gleichheit und Rechtsicherheit.

Das Grundgesetz wurde am 23. Mai 1949 erlassen und trat nach Ablauf dieses Tages in Kraft. Geschrieben wurde es vom Parlamentarischen Rat, der sich aus den elf Landesparlamenten in den drei westdeutschen Besatzungszonen zusammensetzte. Ihm gehörten 61 Männer und vier Frauen an. Es galt, Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus zu ziehen. Deswegen finden sich im Grundgesetz nicht nur die Erwähnung der Grundrechte, sondern auch Kapitel zum Föderalismus, dem Bundestag, der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und dem Verteidigungsfall. Eine Bedienungsanleitung des Antifaschismus, seit 75 Jahren.

Grundgesetz sichert auch Mustafa Cetinbas Grundrechte

„Ich dachte, es wäre länger her“, sagt Mandy Rullkötter aus Hennef. Auch ihr fällt zunächst nur Artikel 1 ein und beim Blättern noch einiges mehr. „Es ist wichtig, dass jeder seine eigene Meinung hat und das geschützt wird. Das hat sich bewährt. Unsere Großeltern und auch Frauen zu dieser Zeit haben es da schwieriger gehabt“, meint die 28-Jährige, die Mutter eines kleinen Jungen ist. „Der erste Artikel ist der wichtigste“, ergänzt ihre Freundin Kristin Kneutgen aus Siegburg. Zur Europawahl gingen die beiden auf jeden Fall. „Wer nicht wählt, darf sich nicht beschweren – die Briefwahl macht es einfach“, sagt die 25-Jährige.

Wählen darf Mustafa Cetinbas nicht, er kommt aus Diyarbakir im Südosten der Türkei und lebt erst seit fünf Monaten in Siegburg. Und doch garantiert das Grundgesetz auch ihm, dem Arbeitsmigranten, Grundrechte. „In der Türkei ist die politische Situation anders, vor allem als Kurde. Wir wussten nicht, was morgen auf uns wartet“, berichtet er. Die kurdische Minderheit in der Türkei wird von der Regierung seit Jahren unterdrückt und assimiliert.

„Es sind nicht nur ökonomische Gründe, warum ich hier bin“, sagt der 31-Jährige. Doch die Integration in Deutschland sei schwierig. „Meine Anerkennungsprüfung als Physiotherapeut habe ich bestanden, aber auf die Urkunde warte ich seit Wochen. Deswegen kann ich nur als Praktikant arbeiten und verdiene weniger. Die Bürokratie ist sehr schwierig“, sagt er. Auch die Übersetzung seines Führerscheins habe Monate gedauert und sei sehr teuer gewesen. Cetinbas fühle sich von seinen Mitmenschen diskriminiert. „Weil wir schwarze Haare haben und einen dunkleren Hautton haben, gehören wir nicht dazu“, klagt er. Vorurteile beseitigt eben auch das Grundgesetz nicht.

Nachtmodus
KStA abonnieren