Meistgelesen 2022Wie drei Menschen in der Psychiatrie um ihr Leben kämpfen

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Musiktherapeutin Esra Mutlu spielt auf einem Monochord

Musiktherapeutin Esra Mutlu spielt auf einem Monochord

  • Sie wollten gerade in den Urlaub fahren, als sich Klara Peters' Mann das Leben nimmt.
  • Roman lebte ein Jahrzehnt in Todesangst und Alex wäre beinahe am ADHS-Syndrom zerbrochen.
  • Bundesweit erfüllt mehr als jeder vierte Deutsche im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung.
  • Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich. Wir haben mit Menschen gesprochen, die in der psychiatrischen Klinik in Erftstadt Hilfe gesucht haben.
  • Dieser Artikel ist zuerst am 27. Mai 2022 erschienen.

Was ist passiert? Die Frau auf dem Stuhl gegenüber holt tief Luft. Eine Weile später, leise und langsam, beginnt sie zu sprechen. Dann wird sie immer schneller. „Es ist passiert: Mein Mann und ich, wir wollten in den Urlaub fahren. Ich wollte mich vorher noch mit einer Freundin treffen und mein Mann hat mich noch zur Tür gebracht. Er hat gewunken, vom Wohnzimmerfenster aus, und mir einen Handkuss zugeworfen. Als ich zurückkomme, sehe ich Dinge auf dem Küchentisch. Den Ehering. Das Portemonnaie, den Personalausweis und einen Brief. Und in dem Brief steht: Geh’ nicht in die Garage, ich habe mir das Leben genommen. Rufe Josef an. Das ist ein befreundeter Psychiater. Der wird alles regeln. Aber bitte, geh’ nicht in die Garage, du sollst mich so in Erinnerung behalten, wie wir uns verabschiedet haben.“

Klara Peters weiß nicht mehr, wie sie es im Sommer des vergangenen Jahres geschafft hat, den befreundeten Psychiater anzurufen. Sie weiß nur noch, dass sie laut geschrien hat. So laut wie noch nie in ihrem Leben. In die Garage ist sie nicht gegangen. Als Josef nachgeschaut hatte und herauskam, hat er nur genickt.

„Warum nur hat er das getan?“

„Ich weiß auch nicht, warum mein Mann das getan hat“, sagt Klara Peters (alle Patientennamen geändert), als ob sie sich verteidigen müsste: „Ich weiß es wirklich nicht.“ Die zarte und kleine Frau sitzt in einem Behandlungszimmer der psychiatrischen Klinik Gracht in Erfstadt-Liblar und weint. Die Schuldgefühle: „Hätte ich es merken müssen? Habe ich etwas übersehen?“ Und der ungeheure Verlust, vollkommen unerwartet. „Das hat mich in einen Abgrund gestürzt, aus dem ich alleine nicht mehr herauskomme.“

In eine Tiefe, in die die 66-Jährige zunächst nicht blicken wollte. In den ersten Tagen nach dem Selbstmord quälte sie eine ungeheure Unruhe. Nur nicht hinsetzen, nur nicht nachdenken. Lieber aufräumen, im Garten oder Haus. Erst bei der Beerdigung realisierte sie, was passiert war. „Dass mein Mann für immer weg ist.“ Die Erinnerungsfetzen, etwa wenn sie nach der Arbeit zufällig gleichzeitig nach Hause kamen und ihr Herz deshalb vor Freude schlug. „Das wird nie wieder so sein, nie wieder“, dröhnt es in ihrem Kopf.

Zwei Abschiedsbriefe hinterlassen

Ihr Mann, pensionierter Lehrer, war in der Schule und in seinem Heimatort beliebt. Wer mit ihm über den Wochenmarkt ging, wurde an jeder Ecke angesprochen und gegrüßt, erzählt Klara Peters. „Mein Mann war jemand, den konnten Sie in jede Gesellschaft stecken. Der hatte immer was zu erzählen. Er war einer, der die Leute unterhalten hat.” Er habe die Tat schon lange geplant, schreibt dieser Mann in einem zweiten Brief, den er hinterlassen hat. „Ich hatte aber nicht den Mut dazu und deine lebensfrohe Art hat mich davon abgehalten. Dadurch habe ich noch viele schöne Tage und Wochen erlebt“, ergänzt er. Aber kein Wort der Erklärung. Der begabte Hobby-Handwerker listet nur noch einige aus seiner Sicht notwendige Reparaturen auf, die er im Haus und Garten nicht mehr geschafft hat.

Die Ungewissheit aber, warum es zum Selbstmord gekommen ist, saugt der zurückgebliebenen Ehefrau die Energie aus dem Körper. „Selbst die kleinsten Handgriffe werden zur Riesenaufgabe. Ich bin hilflos, habe mich oft gefragt, wieso ich keinen Topf mehr auf den Herd stellen kann – auch heute geht mir das manchmal noch so“, erzählt die ehemalige Abteilungsleiterin eines mittelständischen Unternehmens, die vor einem Jahr in Rente gegangen ist: „Ich hatte bisher nicht den Mut, mir das Leben zu nehmen, obwohl ich an manchen Tagen viel lieber da gewesen wäre, wo mein Mann jetzt ist.”

Viele Selbstmorde könnten verhindert werden

„Anhaltende Trauerstörung“, nennt die Wissenschaft die Situation, in der Klara Peters sich befindet. Hinzu kam eine Depression, die anfänglich mitbehandelt wurde, erklärt Michael Bornheim, Chefarzt der Klinik in Erftstadt. Bundesweit erfüllt mehr als jeder vierte Deutsche im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung, meldet die „Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie”. Derartige Probleme sind mittlerweile nicht nur die zweithäufigste Ursache für Krankheitstage im Beruf, sie sind auch mit weitem Abstand der häufigste Grund für Frühverrentungen.

Dennoch werde das Thema immer noch viel zu wenig beachtet, sagt Chefarzt Bornheim und verweist auf weitere Zahlen. Im Jahr 2020 gab es in Deutschland beispielsweise 2724 Verkehrstote, aber 9606 Suizide. „Und die Zahl der versuchten Suizide ist noch viermal so hoch, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.“ Darüber aber werde kaum gesprochen. „Das ist verheerend, weil Vieles verhindert werden könnte, denn die Krankheiten sind ja behandelbar.“

Notfallaufnahmen sind rund um die Uhr möglich

Im Großraum Köln/Bonn gibt es zahlreiche psychiatrische Kliniken. Alleine in Köln finden Betroffene fünf Einrichtungen der Stadt und des Landes, die in der Allgemeinpsychiatrie, psychosomatischen Medizin und Psychotherapie eine Kapazität von über 1000 Plätzen bereitstellen. Notfallaufnahmen sind rund um die Uhr möglich.

Wie in den meisten anderen Kliniken stoßen auch in Erftstadt zahlreiche Krankheitsbilder aufeinander. Hier ist man Anlaufstelle für Menschen mit Depressionen, mit Angst- oder Wahnzuständen oder mit psychosomatischen Schmerzen. Hilfesuchende, die schon mehrfach in Kliniken waren, etwa weil sie als Kind vom Großvater missbraucht wurden. Aber auch Patientinnen und Patienten, die womöglich nur eine einmalige Krise zu bewältigen haben.

Musik, die den Gefühlen einen Ausdruck gibt

Alex, 30, läuft über den Innenhof der Klinik. Weil der Kraftraum abends wegen Corona gesperrt ist, hat er sich Hanteln bestellt. Gesamtgewicht: 156 Kilogramm. Damit will er in seinem Zimmer der Privatklinik trainieren. „Dampf ablassen, und damit der Bizeps nicht schrumpft“, sagt der Kampfsportler und lacht. Gerade kommt er von der Musik-Therapie, die Augen sind noch etwas glasig. „Das ist da oft wie in einem Emotions-Tsunami“, erzählt er. Heute habe ein Patient den Titel „Tommi“ aus seiner Playlist gespielt, das Liebeslied der Gruppe AnnenMayKantereit über Köln. „Der Kollege“ aber habe sich gewundert, warum gerade dieser Song ihn so berühre.

Die Musik helfe, Gefühlen nachzuspüren, für die man noch keine Worte habe, hat Therapeutin Esra Mutlu daraufhin erklärt. „Tommi, ich glaub‘ ich hab‘ Heimweh“, heißt es in dem Lied. Vielleicht gehe es um Sehnsucht nach einer Zeit, die unbeschwert war, hat Mutlu gesagt. Und am Ende der Doppelstunde hat sie mit einem improvisierten Lied am Klavier ausgedrückt, wie sie die heutige Therapiesitzung empfunden hat. Tiefe Töne, langanhaltend und traurig, für die Schwere und Bedrücktheit im Raum. Überwiegend aber hohe Oktaven, flink gespielt wie der Takt von Regentropfen, für den Wunsch nach Hoffnung und Nähe, den sie gespürt habe.

ADHS hat Alex einen Teil seines Lebens verhagelt

„Das ist der Hammer“, sagt Alex: „Da kann selbst ich mal stillsitzen, bin den Tränen nahe.“ Er leidet unter ADHS, einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. Schon als Kind konnte er sich nur schwer konzentrieren, war sprunghaft, „der klassische Zappelphilipp eben“, sagt er. Die Last, nie richtig behandelt, verhagelte dem Kölner die Schulnoten und einen Teil seines Lebens. Mit elf raucht er seinen ersten Joint, mit 17 ist er bei acht Gramm Marihuana pro Tag angekommen.

Ein Leben auf der Überholspur: Es muss immer mehr sein. Sex, Drogen oder Spaß mit den Freuden - Hauptsache extrem. Jahrelang fährt er Auto ohne Führerschein. Er reißt sich beim Krafttraining und Kampfsport beide Brustmuskeln ab, bricht sich ein Bein, verschleißt seine Hüfte. Mit 18 wird er Hindu, dann Budhist, anschließend Salafist. Den Absprung schafft er erst, als die Ansichten der islamistischen Extremisten immer drastischer werden.

Auf der Suche nach ordnenden Regeln

„Das Zugehörigkeitsgefühl in der Moschee, fünf Mal am Tag beten und dann noch die ganzen Verbote.“ Er habe damals wohl nach Regeln gesucht, die sein Leben ordnen, sagt Alex. Die alleinerziehende Mutter habe ihm keine Grenzen gesetzt. „Die hat mich eher für so etwas wie ein Wunderkind gehalten, das sicher noch etwas Besonderes schaffen wird.“

In der Wirklichkeit jobbt Alex als Botenfahrer oder bei Versicherungen und bricht eine Lehre als Koch ab. Weil es nie genug sein kann, erzählt er jede Menge Lügengeschichten. Was er alles getan oder wen Tolles er getroffen habe. Seiner späteren Ehefrau, die er in Brasilien kennenlernt, gaukelt er vor, er habe bei den Special Forces in Afghanistan gekämpft. In die offene Psychiatrie nach Erftstadt ist Alex gekommen, als seine Gedankenwelt so durcheinandergerät, dass er an Selbstmord denkt.

„Die Seele hat ihr eigenes Zeitfenster“

Statistisch gesehen betrage die durchschnittliche Verweildauer in psychiatrischen Kliniken 42 Tage, sagt Klinikchef Bornheim. Manchmal aber gebe es eben auch „sehr langwierige Geschichten“: „Die Seele hat ihr eigenes Zeitfenster.“ Zumal viele Patienten erst nach einer jahrelangen Odyssee durch Arztpraxen mit dicken Behandlungsordnern in einer Psychiatrie landen würden. „Die Leute werden von Pontius zu Pilatus geschickt. Wenn es schlimm läuft, wird ihnen sogar vermittelt, sie seien nur eingebildete Kranke.”

Oder sie glauben jahrelang selbst nicht an ihre Krankheit, wie Roman. Der 28-Jährige starrt in die Luft. Gerade noch hat er am Gespräch teilgenommen. Jetzt ist er verstummt. Es scheint, dass die Realität ihm entgleitet, in eine Zwischenwelt, für die das Geschehen am Tisch nicht mehr wichtig ist. Fast eine Stunde lang wird dieser Zustand anhalten. Es ist eineinhalb Jahr her, als der „Kölner Stadt-Anzeiger“ Roman in dieser Verfassung angetroffen und das erste Mal mit ihm gesprochen hat. „In meiner schlimmsten Phase, kurz bevor ich in die Psychiatrie gekommen bin, habe ich schon mal acht Stunden geduscht - ohne es zu merken“, sagt Roman heute. „Es fühlt sich an, als würde ich in einen Nebel abdriften, weit weg. Man betrachtet sich selbst wie jemand Fremdes.“

Zehn Jahre mit einem unbehandelten Trauma

Roman leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Einige Wochen nach seinem 18. Geburtstag ist er zusammengebrochen. Herzmuskel und Herzbeutel, schwer entzündet durch eine von seinen Ärzten falsch behandelte Mandelentzündung, haben versagt. Den Eltern wird im Krankenhaus gesagt, ihr Junge werde die Intensivstation vermutlich nicht mehr lebend verlassen.

Die Behandlung gelingt zwar, aber der Zustand bleibt lange Zeit kritisch. Und die mittlerweile von Streptokokken-Bakterien völlig zerstörten Mandeln müssen dringend entfernt werden, zusätzlich wird jede Menge abgestorbenes und entzündetes Halsgewebe ausgeschabt. Ein Dreivierteljahr hält Roman sich in Krankenhäusern auf. Seine Wunden platzen immer wieder auf. Dann sprudelt das Blut aus seinem Hals. Die Stellen müssen verödet werden, um die Blutungen zu stillen.

Ständig das Gefühl, in Lebensgefahr zu sein

„Und immer das Gefühl, in Lebensgefahr zu sein“, erzählt Roman „Mein Herz war nicht gesund. Und wenn man dann merkt, wie die Nierenschale im Notarztwagen wegen der wieder aufgegangenen Wunden langsam vollläuft, wie sich der Magen mit Blut füllt, so dass man sich fast übergeben muss, dann fragt man sich, ob die Blutungen auch diesmal noch gestoppt werden können.“ In seiner Unausweichlichkeit fühle sich das erbarmungslos an. „Und wenn du über Monate gefühlt anhaltend unter Lebensgefahr bist, drehst du durch oder drückst es weg. Das habe ich dann gemacht, es weggedrückt.“

Das Problem dabei: „Ein Teil von mir glaubt seitdem, die lebensbedrohliche Situation hält immer noch an“, sagt Roman. Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von kaltem und heißem Gedächtnis. Bei stark traumatischen Ereignissen kann es dazu kommen, dass sich die beiden Gedächtniskomponenten voneinander abspalten. Das hat zur Folge, dass die Abspeicherung und Konsolidierung des Erlebten ins „kalte“ Langzeitgedächtnis massiv gestört und behindert ist. Das Trauma kann somit nicht in die eigene Biografie eingebettet werden, es tobt weiter in einem Teil des Bewusstseins, der für den Betroffenen unerreichbar scheint.

Trauma frisst sich in sein Unterbewusstsein

Zehn lange Jahre hat Roman ausgehalten, ohne dass die Krankheit behandelt wurde. Dass er sich nach den Klinikaufenthalten im Jahr 2010 verändert hat, bemerkt er zwar schnell. Egal wie lange er schläft, der damals 18-Jährige wacht anschließend wie gerädert auf. Er ist gereizt, übermüdet, schreckhaft, zieht sich tagelang auf sein Zimmer zurück. Roman schämt sich, hat Zweifel. „Du warst doch nicht im Krieg, reiß dich zusammen“, sagt er zu sich selbst.

Je länger er durchhält, desto tiefer frisst sich das Trauma in sein Unterbewusstsein. Das geplante Studium der Orientalistik beginnt der Zwei-Meter-Hüne erst gar nicht. Die anderen Studierenden, die wirkten so unbeschwert, erinnert er sich. „Man sieht das und denkt: Scheiße, warum kann ich nicht auch so sein? Das ist bitter. Aber der Kontrast war so heftig, dass ich das nicht jeden Tag noch vor der Nase haben wollte.”

Der abgspaltene Teil der Seele muss wieder integriert werden

Als seine Kraft zu Ende ist, kommt Roman in die Klinik. Auch hier hat es noch lange gedauert, bis er akzeptiert hat, dass er an einem Trauma leidet. Bis er geglaubt hat, dass eine Gesprächstherapie und zeitweise auch Tabletten tatsächlich helfen können. Mit seiner Therapeutin versucht er jetzt, den abgespaltenen Teil seines Ichs wieder zu integrieren. Die Gefühle, die damit einhergehen, zuzulassen, um das Geschehene auszuhalten und es zu verarbeiten.

„Dafür beispielsweise schreibe ich das Erlebte im Detail auf. Welche Farben hatten die Fliesen, wie hat es gerochen, wie war das Wetter, wie sah der Notarzt aus, als das Blut aus meinem Hals lief?”, beschreibt Roman einen Teil seiner Therapie. „Dann besprechen wir das immer und immer wieder, damit ich die Ereignisse als etwas Vergangenes abspeichern kann.”

Wechsel in die Tagesklinik „fühlt sich wie Freiheit an“

Es hat Monate gedauert, aber der Kampf gegen die Verzweiflung hat sich gelohnt: Klara Peters, Alex und Roman - alle drei sehen mittlerweile zumindest ein Licht am Ende des Tunnels. Sie werden demnächst stationär entlassen und wechseln in die Tagesklinik des Krankenhauses. Er komme dann wochentags zwar noch täglich zur Therapie nach Erftstadt, schlafe und esse hier aber nicht mehr, sagt Roman. „Ein großer Schritt für mich, und es fühlt sich irgendwie auch wie Freiheit an.”

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