Das Phänomen des Ohrwurms wirft viele Fragen auf. Musikpsychologen versuchen, sein Wesen zu enträtseln. Wann wird ein Song zum Ohrwurm? Und was verrät die Playlist in unserem Unterbewusstsein über uns selbst?
Wenn unser Hirn zum DJ wirdWie entstehen Ohrwürmer - und wie wird man sie wieder los?

Kriecht unerbittlich ins Gehirn: Manche Melodie ist so eingängig, dass sie sich als Ohrwurm einnistet.
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Es passiert immer aus dem Nichts, sagt Silvi Dworschak. Beim Zähneputzen, bei der Arbeit, oder – wie jetzt – beim Blick auf das Dompanorama in der Mitte der Zoobrücke. Klar, Karneval liegt schon lange zurück, aber so einen Song kann man ohnehin jederzeit hören. Zum Beispiel jetzt. „Ich kumm nit us Amerika, ich kumm us dä Stadt met K. Scha-la-la-la-la. Scha-la-la-la-la. Scha-la-la-la-la.“ Die Kölnerin klopft aufs Lenkrad und singt laut mit: „Ich kumm us dä Stadt met K!“
Silvi Dworschak sitzt alleine im Auto, das Radio ist aus. Den Song von Kasalla hat ein DJ in ihr Unterbewusstsein eingespielt. In der Wissenschaft wird das Phänomen als „Involuntary Musical Imagery“ („INMI“) bezeichnet. Silvi Dworschak nennt die landläufige Übersetzung des Vorgangs: „Das ist ein Ohrwurm. ,Stadt mit K‘ gehört zu den Liedern, die ich einfach nicht aus dem Kopf bekomme. Es kommt mir so vor, als ob sich die Melodie tief in meinen Kopf gebohrt hätte.“
Im Rheinland wird ausgelassen gefeiert und gesungen – nicht nur an Karneval. Vielleicht sind die Menschen dort besonders anfällig dafür, von Ohrwürmern befallen zu werden. Der Ohrwurm besitze im übertragenen Sinne die Eigenschaft, „wie ein Parasit ins Ohr zu kriechen und dort haftenzubleiben“, beschreibt der Musikprofessor Jan Hemming den Vorgang. Er beschäftigt sich an der Uni Kassel mit der Erforschung der „Spezialphänomene des Hörens“.
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Tatsächlich existiert in der Biologie ein entsprechender Parasit, der sich im Ohr einnisten kann. Das Insekt „Gemeiner Ohrwurm“ (lat. „Forficula Auricularia) war ursprünglich nur in Europa beheimatet, wurde aber durch den Menschen in zahlreiche andere Regionen der Welt verschleppt. Das deutsche Wort Ohrwurm wurde als „earworm“ ins Englische übertragen. Typisch für den Ohrwurm sei, dass er ohne willentliche Kontrolle des Betroffenen ins Bewusstsein dringe, erklärt Musikforscher Hemming.
Aktuell ungewollt im Ohr festsitzend: „Bauch, Beine, Po“ von Shirin David
Genau das ist wohl auch der Grund dafür, dass viele Menschen einen Ohrwurm bisweilen als nervig empfinden. Vor allem dann, wenn Musik, die man persönlich nicht mag, vom Player im Unterbewusstsein abgespielt wird. „Auch Lieder, die ich nie hören würde, setzen sich fest“, so die Key Account Managerin Dworschak. Aktuell sei das „Bauch, Beine, Po“ von Shirin David, der populären Deutsch-Rapperin.
„Geh ins Gymmie, werde skinny, mach daraus eine Show. Wir sind pretty im Bikini, das ist Bauch, Beine, Po.“
Silvi Dworschak findet den Song schrecklich. „Ich will ihn nicht mögen, aber er ist einfach da und klebt fest.“
In Köln beschäftigt sich die Musikpsychologin Barbara Roth mit dem Phänomen des Ohrwurms. Gibt es bestimmte Auslöser für die Musik im Kopf? „Oft entsteht ein Ohrwurm in Phasen reduzierter kognitiver Aktivität wie zum Beispiel bei monotonen Hausarbeiten oder in Wartephasen“, sagt Roth. Ohrwürmer seien mit Tagträumen vergleichbar - und entstünden wenn die kognitive Auslastung unterschritten werde, zum Beispiel bei einer langweilen Zugfahrt. „Weil sich das Gehirn mit Unterforderung oft nicht abfindet, kann ein kreatives Herumwandern von Gedanken in Gang gesetzt werden. Dann werden im Gedächtnis gespeicherte Informationen abgerufen – das funktioniert bei musikalischen Inhalten besonders leicht“, sagt die Musikpädagogin.
„Oft entsteht ein Ohrwurm in Phasen reduzierter kognitiver Aktivität“
Der Ohrwurm ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. In der Literatur findet das Phänomen schon bei Mark Twain in der Kurzgeschichte „A literary nightmare“ Erwähnung. Sigmund Freud berichtet im Jahr 1900 im Buch „Die Traumdeutung“ von einer Patientin, die „unwillkürlich Stücke hört“.

Silvi Dworschak aus Köln ist von dem Ohrwurm „Bauch, Beine, Po “ befallen - und kann den Song nicht mehr hören.
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Welche das sind, hängt jeweils von der Lebenssituation ab, in der sich die jeweilige Person befindet. Viele Eltern werden zum Beispiel von Ohrwürmern geplagt, die die Kinder aus der Kita eingeschleppt haben. In der Osterzeit erklingt spontan: „Hoppelhase Hans, oho-oh. Macht heut einen Tanz, oho-oh. Hoppelhase Hans, oho-oh. Seht mal an, der kann's, oho-oh.“
Oder Rolf Zuckowski: „Januar, Februar, März, April. Die Jahresuhr steht niemals still. Mai, Juni, Juli, August. Weckt in uns allen die Lebenslust.“
Wenn die Kinder älter werden, reifen auch die Ohrwürmer. Aktuell ertönt ein Stück, das wie ein Fußballsong wirkt, aber ein rührendes Lied über Familie, Liebe und Zusammenhalt ist, in den Köpfen vieler Mamas und Papas: „Ding Südkurv“ – zufällig wieder von Kasalla: „Ich ben ding Südkurv, dinge Ultrafan. Keiner lösch dat Füür, dat för immer in mir brennt. E Levve lang ding Südkurv ohne Ävver oder Wenn Denn ich bliev för immer dinge Hooligan, dinge jrößte Fan“.
Henning Neuser: „Schnell was anderes hören, das hilft. Am besten das ganze ,Nevermind‘-Album von Nirvana“
Henning Neuser ist Singer/Songwriter und Vocalcoach in Köln. Was sind die besten Bedingungen, die einen Ohrwurm entstehen lassen? „Ideal ist eine wirklich gute, genial komponierte Melodie, die einem etwas gibt, etwas ganz Persönliches, weil sie ein starkes Gefühl auslöst“, sagt der Produzent. Das könnten auch alte Songs sein wie „Bridge over troubled water“ von Simon & Garfunkel oder „Yesterday“ von den Beatles. Oder Hits aus der Jugend, wie „Boys don't cry“ von The Cure.
Neben der persönlichen Betroffenheit spielt aber auch die permanente Wiederholung von Hits bei Sendern wie 1Live oder anderen Musikwellen eine Rolle. „Ein Beispiel ist ,Atemlos‘ von Helene Fischer. Schnappt man den Song zufällig durch die offene Fensterscheibe eines vorbeifahrenden Autos auf, wird man den nicht so schnell los, auch wenn man es noch so sehr will. Dann muss man am besten schnell was anderes hören, das hilft. Am besten das ganze ,Nevermind‘-Album von Nirvana", sagt Neuser.

Henning Neuser, Singer/Songwriter aus Köln-Nippes, bekämpft „Atemlos“ von Helene Fischer mit Musik von Nirvana.
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Es kann lästig werden, einen Ohrwurm nicht mehr loszuwerden. Studien zufolge können die Lieder von einigen Minuten bis zu drei Wochen im Kopf herumschwirren. Ob Gegenmaßnahmen wirksam sind, ist von Person zu Person völlig unterschiedlich. „Das Anhören anderer Musik kann einen Ohrwurm bisweilen überdecken“, erklärt die Forscherin Barbara Roth. Hilfreich könne auch die Aufnahme einer konzentrierten Tätigkeit sein. „Manchen Menschen hilft auch Kaugummikauen, weil das Kauen das Abrufen von Gedächtnisinhalten erschwert“, sagt die Dozentin.
Silvi Dworschak hat eine eigene Strategie. Manchmal sei es zuträglich, wenn man sich Zeit nehme und den Ohrwurm ganz bewusst vom Anfang bis zum Schluss abspiele. Funktioniere das nicht, helfe am besten Gelassenheit: „Ohrwürmer können schrecklich, aber manchmal auch herrlich sein.“