Projekt für PalliativpatientenEin Hörbuch für Tochter Emilia

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Tanja Wolf ist unheilbar krank und hat zum Trost ihrer Familie ein Hörbuch aufgenommen.

Tanja Wolf ist unheilbar krank und hat zum Trost ihrer Familie ein Hörbuch aufgenommen.

Bonn – Wenn Tanja Wolf das Instrumentalstück „Crockett’s Theme“ hört, ist wieder 1988. Sie sitzt mit ihrem Walkman auf der Rückbank neben ihrem Bruder, hat nur diese eine Kassette mit dem Soundtrack der amerikanischen 80er-Serie „Miami Vice“ dabei, schaut stundenlang aus dem Fenster, wie sich draußen die Landschaft verändert. Es ist Sommer, es ist heiß, es geht in den Familienurlaub nach Südjugoslawien.

Das Lied soll unbedingt in ihr Hörbuch, das sie gerade mit Biografin Judith Grümmer aufgenommen hat. Und die Erinnerung an eine Reise sei für ihre Situation ja auch ganz passend, ergänzt Wolf, braune Kurzhaarfrisur, helle blaue Augen und taubenblauer Rollkragenpulli. Beide sitzen an Grümmers Esstisch, in ihrem Ferienhaus in der Eifel, wo sie die vergangenen drei Tage verbracht haben.

Unheilbar krank

Die Bonnerin Tanja Wolf ist 43 Jahre alt, Mutter einer zehnjährigen Tochter und leidet seit sechs Jahren an Gebärmutterhalskrebs. Seit drei Jahren gilt ihre Krankheit als unheilbar, es gibt keine Therapie. Das Hörbuch nimmt sie für ihre Tochter Emilia auf, „um einmal ein großes Statement zu machen“. Um die Erfahrungen zu bündeln, die sie Emilia auf ihren Lebensweg mitgeben will. Sie trennt die wichtigen von den unwichtigen Ereignissen ihres Lebens und fragt: Welcher rote Faden zieht sich bei mir durch Kindheit, Studium, Berufsleben und Beziehungen?

Ein roter Faden, der bei Emilia weitergeht. Den das Mädchen vielleicht irgendwann besser verstehen will, wenn ihre Mutter nicht mehr lebt. Wer war meine Mama, außer meine Mama? „Ich will, dass sie später meine verschiedenen Facetten kennenlernen kann“, sagt Wolf. „Dass sie weiß, was mir im Leben wichtig war.“

Interviews über Familiengeschichte, Schönes und Schmerzhaftes

Das Hörbuch soll keine „Stimme aus dem Off“ sein, die den Kindern Anweisungen gibt, erklärt Grümmer, sondern ein „Zukunftsgeschenk“. Die Kölner Journalistin rief das Projekt „Familienhörbuch“ 2017 mit der Klinik für Palliativmedizin der Universität Bonn ins Leben. Mittlerweile bietet sie ihre Arbeit in ganz Nordrhein-Westfalen an, bekommt Anfragen von überall in Deutschland. Die Idee: Junge Palliativpatienten, die an einer unheilbaren, lebensverkürzenden Krankheit leiden, können Kindern und Angehörigen ihre Lebensgeschichte hinterlassen. Das Angebot ist kostenlos und wird durch Spenden finanziert.

Grümmer geht bei den Interviews meist chronologisch vor, fragt zuerst nach den Vorfahren, den Umständen der eigenen Kindheit, bohrt nach, wenn sie merkt: Da ist etwas, das erzählt werden muss. Sie bedient sich dabei ihres journalistischen Handwerks, sagt sie, riskiert auch schmerzhafte Erlebnisse wie Gewalterfahrungen oder die Leiden der Krankheit anzusprechen. „Tretminen“ nennt Grümmer die schrecklichen Erinnerungen und betont, wie wichtig auch deren Erzählung ist: „Die Mütter behalten so die Deutungshoheit über ihre Geschichte.“

„Ich will Emilia zeigen: Die Welt ist voller Möglichkeiten“

„Wir haben dokumentiert, nicht interpretiert“, sagt auch Wolf. Trotzdem reflektiert sie in diesem intensiven Austausch natürlich ihr Leben. Ihr sei erst in den Gesprächen mit Grümmer bewusst geworden, wie besonders die Beziehung zu Emilias Vater sei. Ihr Mann und sie hätten nie eng aneinander geklebt. Sie würden sich gegenseitig den Rücken frei halten, damit beide sich frei entwickeln können. „Ich erkenne jetzt: Das ist ein Geschenk.“

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Ihrer Tochter möchte sie damit zeigen, wie vielfältig Beziehungen und wie bunt ein Miteinander sein kann. „Ich will Emilia nicht die Gebrauchsanweisung für ein tolles Leben geben, sondern zeigen: Die Welt ist voller Möglichkeiten.“ Anders als ein Tagebuch oder Briefe bedient das Hörbuch mehr Sinne, eine Stimme transportiert auch Gefühle. Es soll der Familie nach dem Tod des Angehörigen Trost spenden, hat nach Grümmers Meinung eine therapeutische Wirkung und kann in der Trauer unterstützen.

Nicht nur die Hinterbliebenen profitieren. Palliativmediziner bestätigen, dass auch die Patienten Arbeit am Hörbuch als wohltuend empfinden. „Wir feiern mit den Aufnahmen auch das Leben. Ich sage immer: Wir blicken nicht auf das abgeerntete Feld, sondern auf die volle Scheune“, erzählt Grümmer, die schon etwa 30 Hörbücher realisiert hat. So sieht es auch Wolf. Sie habe bei den Aufnahmen viel gelacht, in schönen Erinnerungen geschwelgt. Sie blickt auf eine Reise – mit 80er-Hits in den Ohren.

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