„Alles ist jetzt verloren“Gespräch mit einem Afghanistan-Veteran

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Stefan Deuschl (Archivfoto)

Stefan Deuschl ist auf dem Weg zum Paddeln. Heute ist Flachwasser dran, das nächste Mal wieder Wildwasser. Es ist der Sport, der ihn im Leben über Wasser hält - und der Zusammenhalt seiner Familie.

Ohne seine Frau und seine beiden Söhne hätte er sich in jenem November 2005 von dieser Welt lieber verabschiedet. Zwölf Kilogramm Sprengstoff hatte der Attentäter im Auto geladen, das er auf einer Zufahrtsstraße nach Kabul gegen den Bundeswehr-Jeep lenkte. Dass Deuschl das überlebt, verdankt er der Amputation seiner beiden Beine noch in Afghanistan. Als er im Krankenhaus in Deutschland aus dem Koma erwacht, ist sein Leben bei Null. „Kein Soldat, kein Vater, kein Mann“ - denkt er damals.

„Schmerzen habe ich jeden Tag“

Ein Reservist stirbt bei dem Anschlag, ein anderer Soldat wird schwerstverletzt. Und Deuschl, damals 38 Jahre alt, verliert so viel Blut, dass sein Gehirn auf „Notstrom“ schaltet und keine Energie mehr in den Speicher der Erinnerung steckt. Das bewahrt ihn bis heute wenigstens vor Albträumen.

Wie es ihm nach all den Jahren geht? „Schmerzen habe ich jeden Tag. Und das wird mein Leben lang auch so bleiben“, sagt er am Telefon. In früheren Gesprächen hat er den Afghanistan-Einsatz stets verteidigt. Trotz allem. Und vor allem wegen der Kinder dort, wegen der Hoffnung auf ihre Zukunft mit freien Wahlen, Menschenrechten, Frauenrechten. Wegen der Mädchen, die endlich zur Schule gehen durften.

Wie viel Sinn hatte die Mission?

Jetzt da die Taliban das Land zurückerobern, das Deuschl und Hunderttausende Nato-Soldaten im Wechsel über 20 Jahre versucht haben zu stabilisieren, stellt sich die Frage nach dem Sinn der Mission. Erst recht geht diese Frage an einen Mann wie ihn, der für dieses Afghanistan fast gestorben wäre.

Deuschl ist ein Mensch, der seine Worte wägt, aber Klartext spricht. Er hat in den Abgrund geschaut und ist nicht hineingestürzt. Das hat ihn stark gemacht. Er ist Vorstandsmitglied der Oberst-Schöttler–Versehrtenstiftung, Leiter des Fachbereichs Wintersport im Deutschen Rollstuhl-Sportverband und Skilehrer für Menschen mit Behinderungen - alle Tätigkeiten sind ehrenamtlich. Andere Menschen beeindruckt er damit: Er hadert nicht. Und dennoch: War es das wert? Deuschl hat eine Botschaft.

Was fühlen Sie, wenn Sie die Bilder aus Afghanistan sehen, wie die Taliban 20 Jahre Kampf- und Kriegseinsatz und Mühen um Demokratisierung innerhalb weniger Tage zunichte machen?

Stefan Deuschl: Ich war überrascht, dass die afghanische Armee so schnell aufgegeben und den Taliban keinen Widerstand geleistet hat.

War das denn nicht absehbar? Es gab doch Warnungen, dass ein Drittel der Streitkräfte Taliban-Sympathisanten war.

Ich bin überrascht, dass so viele afghanische Soldaten und Polizisten ihr neues Leben mit Rechten und Freiheiten und Bildung für ihre Kinder nicht verteidigen wollten und den Taliban das Land widerstandslos überlassen haben. Dann ist noch der Präsident einfach abgehauen und die Bevölkerung hat die Taliban teils mit offenen Armen empfangen hat. Das schockiert mich.

Welche Fehler wurden gemacht?

Der Zeitpunkt des Truppenabzugs. Die Soldaten gingen in einem Moment der immer noch ungeordneten Verhältnisse. Das war der größte Fehler, den die Politik überhaupt machen konnte – die Nato, die USA, Deutschland. Es war doch erkennbar, dass die Afghanen das Heft des Handelns noch nicht in die Hand nehmen konnten. Und dann wurde keine Evakuierung der eigenen Leute der Botschaft und Hilfsorganisationen und der Ortskräfte vorbereitet. Einfach planlos.

Das ist der Part der Politik. Welche Fehler hat das Militär gemacht?

Das Militär führt die Anweisungen der Politik aus. Wir haben den Auftrag erfüllt. Militärisch fehlte aber dies: Wir hätten die Taliban viel konsequenter bekämpfen müssen. Wir hätten ihnen mehr die Stirn bieten und sie aufspüren müssen. Mit der Präsenz von anfangs 150.000 Soldaten hätten wir das schaffen müssen. Das hätte Opfer gefordert, bei uns und unter Zivilisten. Das tut die jetzige Entwicklung aber auch. Was haben wir nicht alles aufgebaut. Das alles ist jetzt verloren.

Wie war das damals in Kabul? Wie wurde die Bundeswehr empfangen?

Ich bin mit den Afghanen nie warm geworden. Ich habe ihnen nie vertraut. Und sie haben uns immer skeptisch beäugt. Was mich berührt hat, waren die Kinder. Im Grunde erinnere ich mich nur an eine hoffnungsvolle Begegnung. Wir waren in der Amani-Schule in Kabul. Die Kinder waren fröhlich und nahmen uns offen auf. Wir haben Tischtennis gespielt. Ich weiß noch, dass ich damals dachte: Hoffentlich ist das die Zukunft dieses Landes.

Was war ihr Antrieb als Soldat in einem Kampfeinsatz?

Ich bin Soldat geworden, weil ich beschützen wollte, die Schwächsten der Schwachen. Frauen, die unterdrückt werden, Kinder, die nicht zur Schule dürfen. Deswegen war ich auch im Kosovo und deswegen bin ich aus Überzeugung in den Einsatz in Afghanistan gegangen.

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Bundeswehrkrankenhaus Koblenz, November 2005: Ein Arzt versucht Deuschls Frau Violetta so schonend wie möglich zu erklären, was auf sie zukommt. Er sagt: „Ihr Mann kann sehen. Nach ein paar Trommelfelloperationen wird er auch wieder gut hören können. Sein Gesicht ist nicht entstellt. Die Arme funktionieren. Er hat auch keine inneren Verletzungen. Bei den Beinen sieht es schlechter aus.“

Sie denkt an Knochenbrüche. Dann hört sie: „Die Beine waren nicht zu retten und die nächsten 72 Stunden entscheiden darüber, ob er es schaffen wird.“ Die beiden kleinen Söhne sollen kommen, um ihrem Vater Lebensmut zu geben. Sie sagen ihm, dass er bei ihnen bleiben soll. Er sei doch ihr Papa, ob mit oder ohne Beine. Sie seien doch so froh, dass er nichts am Kopf hat. Er schafft es.

Deuschl verlässt die Bundeswehr

Wäre Deuschl tot gewesen, hätte die Versicherung gleich gezahlt. So erst nach einem Jahr. So lange durfte sie warten, ob er nicht doch noch stirbt, berichtet er. Denn die Todesfallsumme sei niedriger. Deuschl verlässt die Bundeswehr. Für den Mann im Rollstuhl gab es keine Aufgabe und kein Umfeld, das er als würdig empfunden hätte: „Ich war nicht mehr der Alte, dann wollte ich auch nicht in den alten Strukturen bleiben.“ Er wird das, was er gern 25 Jahre später geworden wäre: Pensionär.

2009 sagte Deuschl zu dem Afghanistan-Einsatz: „Wenn wir jetzt rausgehen, haben Soldaten ihr Leben gelassen für nichts. Jetzt dürfen wir die afghanische Bevölkerung nicht alleinlassen. Wenn sich für die nächste Generation dort etwas ändert, hat es einen Sinn gehabt.“

Wie sehen Sie die Rolle der Politik im Verhältnis zum Militär?

Deuschl: Mein Vertrauen in die Politik geht gegen Null. Egal um welche Partei es sich handelt. Sie sollen endlich einmal alle sagen: Wir haben das falsch gemacht. Und sie sollten sich für die Hinterbliebenen interessieren und die Versehrten und uns mehr Respekt und Anerkennung zollen. Wir haben ihre Ideen ausgeführt. Ich wünsche mir auch von der Bevölkerung mehr Rückhalt. Alle rufen nach Einhaltung der Menschenrechte. Aber wenn Soldaten das dann durchsetzen sollen, stehen sie alleine da. Ich habe das alles erlebt. Das schmerzt. Glaubt ernsthaft jemand, dass man mit Taliban verhandeln kann? Das sind Menschen, für die nur Gewalt zählt.

Wie sieht Ihr Alltag aus?

Ich bin viel mit Menschen mit Behinderungen zusammen. Ich gebe ihnen Hoffnung, dass sie im Sommer paddeln und im Winter Skifahren können, auch wenn sie im Rollstuhl sitzen. Vor allem die Kinder sind dankbar.

Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

Früher hatte ich Phantomschmerzen in meinen Zehen, im Schienbein, im Knie. Heute schmerzen die Stümpfe. Jeden Tag. Dagegen treibe ich Sport. Das ist mein Lebenselixier. Da bekomme ich den Kopf frei und vergesse die Schmerzen.

Wovon träumen Sie?

Ich würde gern an den Invictus Games teilnehmen, das ist die paralympische Sportveranstaltung für kriegsversehrte Soldaten, die 2014 erstmals in London stattfand. Ich habe das einmal beim Bundeswehrverband angesprochen, ich betreibe ja Leistungssport. Früher war ich für mein Land im Einsatz, jetzt würde ich für mein Land gern in den Wettkampf gehen. Aber es hat sich niemand bei mir gemeldet. Das enttäuscht mich.

Wie motivieren Sie sich im Alltag?

Ich schaue nach vorn und nicht zurück. Es würde sich ja nichts ändern. Ich bekomme meine Beine nicht wieder. Ja, ich habe meine Beine verloren. Ja, ich habe Schmerzen. Ja mei, das ist halt so.

„Ich stelle den Einsatz nicht infrage“

Die bittere Bilanz des Einsatzes: 59 Bundeswehrsoldaten starben in Afghanistan, viele wurden schwer verletzt. Die große Mehrheit der Deutschen war laut vieler Umfragen gegen den Einsatz.

2009 hatte Deuschl auf die Frage gesagt, wie er reagieren wird, wenn seine Söhne einmal zur Bundeswehr wollen: „Ich werde ihnen nicht abraten.“ Seine Frau hatte geantwortet: “Ich wünsche mir, dass keiner von beiden zur Bundeswehr geht.“ Sind sie nicht. Beide haben studiert.

Deuschl steht jetzt an der Regattastrecke Oberschleißheim bei München. Zwölf Kilometer will er gleich „wegpaddeln“. Kopf frei, Schmerz vergessen, leben. Wie er heute zu dem Afghanistan-Einsatz steht? Seine Einstellung habe sich nicht verändert, sagt er. „Ich stelle den Einsatz nicht infrage, auch wenn er gescheitert ist und ich einen hohen Preis bezahlt habe. Die Idee war die richtige.“

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