Corona-Talk bei „Anne Will“Virologe Streeck will nicht auf Impfstoff setzen

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Streeck imago

Virologe Hendrik Streeck bei „Anne Will“

  • Anne Will suchte in ihrer Sendung nach einer Corona-Strategie für die kalten Monate. Die Gäste waren sich einig: Maßnahmen müssen gut erklärt werden. Eine Sprecherin mahnte davor, die Krankheit wegen leerer Intensivbetten nicht ernst zu nehmen.

Berlin – Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus steigt wieder – langsam, aber sicher. Gleichzeitig saßen am ersten Spieltag der Bundesliga in einigen Stadions wieder Fans. Hygienekonzepte und Schutzmaßnahmen werden, je nach Interpretation, immer differenzierter oder unübersichtlicher.

„Anne Will” am 20. September: Über dieses Thema wurde diskutiert

Mit welcher Strategie umgeht Deutschland im Herbst und im Winter einen zweiten Lockdown? Wie erhält die Politik die Akzeptanz für Einschränkungen in der Bevölkerung? Über diese schwerwiegende Frage diskutieren die Gäste am Sonntag im ARD-Politiktalk. Auf einen Grundsatz konnten sie sich schnell einigen: Die Polarisierung, die rund um die Maßnahmen etwa auf den sozialen Medien betrieben wird, hilft nicht weiter.

So argumentierten die Gäste bei „Anne Will” am Sonntag

Virologe Hendrik Streeck sprach sich dafür aus, auch große Events wie Konzerte mit entsprechend soliden Hygienekonzepten zu testen – mit Masken, mit entsprechendem Abstand – und das Coronavirus durch die gewonnenen Daten noch besser verstehen zu lernen. Die Nachfrage der Moderatorin, ob er es für ethisch vertretbar halte, dass sich dabei im Zweifelsfall Tausende Menschen anstecken, umschifft Streeck, auch die anderen Gäste nehmen diesen Punkt nicht weiter auf.

Alle Hoffnungen im Kampf gegen das Virus auf einen Impfstoff zu setzen, hält er für „ziemlich unseriös” – denn niemand könne sagen, wann dieser Impfstoff tatsächlich kommt. Aktuell würden massenhafte Tests noch dabei helfen, die Dunkelziffer zu einem guten Teil auszuleuchten. Ein Ampelsystem sei da einfacher, um aktuelle Entwicklungen verständlich zu machen.

Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, fürchtet, dass durch die teils uneinheitlichen Infektionsschutzmaßnahmen der Bundesländer Vertrauen verloren gehen könnte. Gut zwei Drittel der Bevölkerung wären mit den Maßnahmen einverstanden, 18 Prozent würden auch noch strengere Regelungen akzeptieren. Es müsse also mehr erklärt werden – Fußballspiele könne man sich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht leisten.

Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz (SPD), verteidigte die unterschiedlichen Einschränkungen. Es hätte keinen Sinn, gleiche Regeln in Rheinland-Pfalz oder Mecklenburg-Vorpommern mit nur wenigen Neuansteckungen einzuführen wie etwa in München oder Garmisch-Patenkirchen, wo die Infektionszahlen hoch sind.

Solange die Gesundheitsämter die Infektionsketten nachvollziehen können, sei sie zuversichtlich. Oberste Priorität sei, dass Kitas und Schulen weiterhin offen bleiben. Stichwort Transparenz: Die Idee mit der Ampel ist auch in Rheinland-Pfalz angekommen, die Kommunen würden gerade eine entwickeln, so Dreyer.

Autorin Marina Weisband hat Schulen und Kitas ebenfalls ganz oben auf der Prioritätenliste. Unter Corona-Bedingungen hieße das für sie vor allem: Kleingruppen und eine Mischung aus Präsenz- und digitalem Unterricht einführen, außerdem mehr in Personal in Schulen investieren. Leerstehende Veranstaltungsräume mit Luftreinigungsanlagen könnten für den Unterricht genutzt werden.

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„Über Fußball, Konzerte und Feiern unterhalten wir uns ganz zum Schluss”, sagt sie. Weisband schlägt außerdem „BürgerInnenräte” vor, um mit Menschen aus allen Lebensbereichen Schutzmaßnahmen zu entwickeln. Schüler sollten zum Beispiel die Gestaltung der Hygienekonzepte an ihrer Schule verbindlich mitbestimmen können. All das würde eine höhere Akzeptanz für Schutzmaßnahmen und Einschränkungen in der Bevölkerung schaffen.

Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar kennt die Vokabel für die nächsten Monate: “differenziert hinschauen”, sowohl auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse als auch auf das Infektionsgeschehen. Denn das werde wahrscheinlich zunehmen, wenn es kälter wird und sich die Menschen wieder vermehrt in Innenräumen aufhalten. “Noch ist es eine abstrakte Gefahr im Vergleich zu harten Maßnahmen.”

Lernfähigkeit sei etwas, „das wir in diesen Zeiten besser sehen als je zuvor – und das ist eine gute Botschaft”, sagt er. Sorgen bereitet ihm aber, dass soziale Medien auch in diesen Zeiten mit Shitstorms ihr Geld verdienen. Denn gerade jetzt sei es wichtig, Brücken zu bauen, damit sich die Gesellschaft infolge der Pandemie nicht noch weiter spaltet.

Die Streitfragen des Abends

Ehrlicherweise gab es bei „Anne Will” in dieser Woche keine großen Konflikte. Ranga Yogeshwar erinnerte die Gäste schon in der Eröffnungsrunde daran, dass sie sich ja im Prinzip einig sind. Vorsicht ist weiterhin das Gebot der Stunde, differenzierte Forschung und Maßnahmen sind genauso wichtig wie transparente und verständliche Erklärungen für die breite Öffentlichkeit. Wissenschaftskommunikation ist also wichtiger denn je. Und: Polarisierung über (soziale) Medien hilft nicht weiter. Im schlimmsten Fall fördert sie eine weitere gesellschaftliche Spaltung.

Zitat des Abends

Wer in der Pandemie ein wenig Beruhigung sucht, schaut in Deutschland auf die Zahl der verfügbaren Intensivbetten. Szenarien von heillos überfüllten Krankenhäusern konnten im Frühjahr dank strikter Kontakteinschränkungen abgewendet werden. Hendrik Steeck rechnete bei „Anne Will” vor, dass derzeit nicht einmal 300 Intensivbetten in der Bundesrepublik belegt sind. Aber was ist, wenn sich Deutschland in trügerischer Sicherheit wähnt? Was, wenn wir unvorsichtig werden und die Infektionszahlen bald stärker steigen denn je?

Marina Weisband, selbst Risikopatientin: „Mit leeren Intensivbetten zu argumentieren, finde ich ganz gefährlich, weil jedes belegte Intensivbett ein belegtes Intensivbett zu viel ist.”

„Anne Will” am 20. September: Das Fazit

Abgesehen von einigen Detailfragen war diese Talkrunde geradezu wohltuend friedlich. Ein Kontrastprogramm zu den Szenen auf den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Von diesem Umgangston können sich die Deutschen für die kommenden Monate etwas abgucken: Der Winter naht, die Pandemie ist noch nicht vorbei und es liegt an uns, die Infektionszahlen auch in dann in einem Rahmen zu halten, den Ärzte, Pfleger und Gesundheitsbeamte bewältigen können. (Sophie Schade/RND)

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