Für 10 PfundWie eine Wette den ersten Flitzer der Sportgeschichte schuf

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Mario Ferri flitzte bei der WM in Katar während der Partie Portugal gegen Uruguay über das Spielfeld.

Mario Ferri flitzte bei der WM in Katar während der Partie Portugal gegen Uruguay über das Spielfeld.

Vor fast 50 Jahren zog ein Australier blank und avancierte zum ersten bekannten Flitzer. Der Sprintprotest wurde seitdem immer politischer – so wie bei der WM in Katar. Der wohl berühmteste Flitzer der Welt lebt derweil nahe Hamburg und brummt einen gewaltigen Schuldenberg ab.

England. Bier. Eine Wette. Auf der Kombination dieser beinahe klassischen Unheilfaktoren basiert das moderne Flitzertum im Sport. 1974 sitzt der Australier Michael O'Brien, damals 25, beim Rugbyländerspiel zwischen England und Frankreich in London auf der Tribüne. Er und seine Freunde haben schon ein paar Kaltgetränke intus. Dann, so ist es von O'Brien überliefert, fordert ein Engländer ihn heraus – würde O'Brien für 10 Pfund nackt aufs Feld laufen? Seine australischen Freunde versuchen angeblich, den Pakt noch zu verhindern. Weil O'Brien jemand sei, der so etwas wirklich machen würde, so erzählte er es später in einem Interview.

Doch es war schon zu spät. In der Halbzeitpause zieht O'Brien komplett blank und rennt aufs Spielfeld. Da er zuvor über einen Zaun klettern muss, kommt er allerdings nicht weit – die Polizisten erwarten ihn schon. Und behandeln den ersten berühmten Flitzer der Geschichte fast schon zuvorkommend.

Weil O'Brien ihnen erzählt, dass er nun mal eine Wette laufen habe und es zum anderen Zaun schaffen müsse, eskortieren sie ihn dorthin. O'Brien gewinnt 10 Pfund. Und die Welt ein neues Phänomen.

Der Egoismus der Flitzer

O'Briens Platzsturm fand in den letzten fast 50 Jahren mehr oder weniger originelle Nachfolger und Nachfolgerinnen; die Sportarten variieren wie die Ausführung: barbusig über das heilige Grün beim Wimbledon-Finale (1996), Nackt-Handstand beim Cricket-Match (2008) oder im pinken Tutu bei der WM im Synchronschwimmen (2003). Am bekanntesten werden Flitzer jedoch beim Fußball – und meist bekleidet.

So wie der Frankfurter Pizzabäcker Cayan Calgici, der 2012 beim Länderspiel Deutschlad gegen Argentinien mit Superstar Lionel Messi abklatschte. „Ich hab das ganze Spiel überlegt, ob ich es wirklich machen soll. 15 Sekunden vor Schluss bin ich über den Zaun. Ich bin erst mal zum Mittelkreis gelaufen. Ich hab“ schon aus 20 Metern Entfernung gesehen, dass Messi grinst. Dann hob er die Hand, und ich dachte: „Irre, der klatscht mich wirklich ab. „Was für ein Wahnsinnstyp“, gab er nachher atemberaubt dem Boulevard zu Protokoll.

Die Aussagen zeigen, worum es den Flitzern ausschließlich geht: Aufmerksamkeit. Manche wollen sich selbst promoten oder ihr Unternehmen. So wie Kinsey Wolanski, die beim Champions-Leauge-Finale 2019 im Badeanzug mit Werbedruck über den Rasen rannte. Deshalb ist es Grundbedingung für den Selfie-Lauf, dass der Sprint gefilmt wird. Bei Pionier O'Brien gab es keine TV-Aufzeichnung – stattdessen machte ihn ein Foto berühmt, wie er nackt von zwei Polizisten vom Platz geführt wird. Einer der Beamten schirmte seinen Schambereich mit dem Helm ab. Im Hintergrund sieht man einen Schlipsträger hereineilen, in den Händen ein wehender Mantel, auf dass O'Brien möglichst bald verhüllt werde.

Beim „World Press Photo“-Wettbewerb 1975 gewann der Fotograf mit dem Bild den ersten Preis in der Kategorie „Humor“.

Ein Störenfried im Ruhestand

Während O'Brien verschämt und erst drei Jahrzehnte später über sein Werk Auskunft gab, gibt es andere, die mehr Prominenz aus ihrem Läufertum schlugen. Der wohl bekannteste Flitzer ist der Katalane Jaume Marquet, besser bekannt als „Jimmy Jump“, heute in seinen Vierzigern. Nicht weniger als 17 Platzstürme dokumentiert Wikipedia auf seiner Seite. Darunter Hochkaräter wie das EM-Finale 2004, zwei Champions-League-Finals, die French Open, der Eurovision Song Contest 2010.

Jimmy Jump, der in Wirklichkeit Jaume Marquet heißt, 2010 bei der Weltmeisterschaft in Südafrika.

Jimmy Jump, der in Wirklichkeit Jaume Marquet heißt, 2010 bei der Weltmeisterschaft in Südafrika.

Der ESC war aber wohl nur ein Warmflitzen für seinen berühmtesten Auftritt ein paar Wochen später: Beim WM-Finale in Südafrika streckte ihn die ausgefahrene Hand eines Ordners nieder, kurz bevor er dem goldenen Pokal eine Barretina, eine typische katalanische Wollmütze, überstülpen konnte. Oliver Kahn kommentierte sein Solo damals: „Erinnert ein bisschen an Maradona 1986.“ 210 Euro Strafe musste Marquet bezahlen. Im selben Jahr war er bei Markus Lanz zu Gast.

Inzwischen lebt Marquet in der Nähe von Hamburg, letzten Meldungen zufolge arbeitet er als Koch – und zahlt einen Schuldenberg von 300.000 Euro ab, resultierend unter anderem aus Anzeigen wegen Hausfriedensbruch. Seine Karriere lässt er nach eigenen Angaben seit 2012 ruhen. Vor fünf Jahren teilte er dem „Spiegel“ außerdem mit: „Hamburg ist wunderschön und das Klima gut für meinen Bluthochdruck.“ Und: „Ich laufe fast jeden Tag zehn Kilometer durch den Wald. Dabei stelle ich mir vor, dass ich durch ein Stadion flitze, so wie früher.“ Jimmy Jump, ein Flitzer in Rente.

Neue Zeiten, neue Flitzer

So weit die bisherige Flitzerevolution: Vom komplett entblößten und nur in schwarz-weiß festgehaltenen O'Brien bis zum Mützen- und Selfmarketer Jaume Marquet, dessen Läufe teils von einem Millionenpublikum verfolgt wurden. Vor allem in den vergangenen Jahren kam eine weitere Flitzerkategorie hinzu: der politische Botschafter. Während bisherige Störenfriede sich selbst feierten, nutzen Aktivisten und Aktivistinnen die Fernsehbühne für ihre Belange.

So etwa während des WM-Finales 2018, als vier Protestler in Polizeiuniformen in der 52. Minute aufs Spielfeld rannten, vor den Augen des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die kremlkritische Punk-Gruppe Pussy Riot reklamierte die Aktion für sich und forderte ein Ende von Festnahmen bei friedlichen Protesten und die Freilassung aller politischen Gefangenen.

Bei der EM 2021 lief ein 18-Jähriger beim Spiel Deutschland gegen Ungarn in München mit einer großen Regenbogenfahne aufs Spielfeld, an den für die Nationalhymne aufgereihten Ungarn-Spielern entlang. Zuvor hatte es Diskussionen über die Diskriminierung von Menschen aus der LGBTQI-Community durch ein neues Gesetz in Ungarn gegeben.

Gleich drei politische Krisenherde trieben zuletzt einen Flitzer während des WM-Spiels zwischen Portugal und Uruguay aufs Feld: Auf dem blauen T-Shirt des Italieners Mario Ferri stand vorne „Save Ukraine“, hinten „Respect for Iranian Woman“ – zudem hatte er eine Regenbogenfahne in der Hand, um auf die verheerende Rechtslage in Katar aufmerksam zu machen.

Flitzer bei Liveübertragungen werden grundsätzlich nicht gezeigt

Für die Fifa sind solche Aktionen heikel. Während Flitzer bei Liveübertragungen grundsätzlich nicht gezeigt werden, muss sich der Verband im Anschluss zumindest medial mit den politischen Statements auseinandersetzen. Vielleicht hatte die Aktion für Ferri auch deshalb keine rechtlichen Konsequenzen, wie er auf Instagram mitteilte.

Es wäre interessant zu wissen, was Trendsetter Michael O'Brien über die heutige Flitzergeneration denkt. Als er 2006 in einer australischen Fernsehsendung von seinem 1974er-Lauf erzählte, zeigte er sich reuig. „Ich fühle mich schuldig“, sagte O'Brien. Spielunterbrechungen durch Flitzer seien „pure Dummheit“. Wäre das Foto von ihm damals nicht entstanden, hätte nie jemand außer den Zuschauerinnen und Zuschauern davon erfahren, will er glauben.

O'Briens Rat: „Macht es einfach nicht“

Die gewonnenen 10 Pfund musste er nach seiner Festnahme als Strafe wieder abdrücken. Dafür saß er pünktlich zu Beginn der zweiten Halbzeit des Rugbyspiels neben seinen Freunden auf der Tribüne – nachdem er sich in Polizeigewahrsam wieder angezogen hatte.

Sein Rat für alle Nachahmer und Nachahmerinnen? „Macht es einfach nicht.“

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