Hitzige DebatteKann Deutschland auf russisches Gas verzichten – und wenn ja, wie?

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Graue Wolken ziehen über eine Erdgas-Verdichterstation.

Berlin – Wenn Fabian Schäfers die Bilder aus der Ukraine sieht, bringt ihn das in Gewissensnöte. „Es ist schlimm, was dort passiert, und natürlich muss man alles tun, damit diese Gräueltaten aufhören“, sagt der 42-Jährige. Einerseits.

Andererseits weiß Schäfers sehr genau, dass „alles tun“ einen Boykott russischer Gaslieferungen einschließen würde – und dass er, falls dieser verhängt würde, seine 220 Mitarbeiter sofort auf unbestimmte Zeit nach Hause schicken müsste. Schäfers ist Geschäftsführer von Porcelaingres, einem Hersteller von Keramikfliesen in Vetschau im Spreewald. In seiner Fabrikhalle steht ein 100 Meter langer Ofen, der die Fliesen bei 1200 Grad brennt und dafür gewaltige Mengen an Gas verfeuert: 12,8 Millionen Kubikmeter im Jahr – so viel wie 800 000 Einfamilienhäuser.

Töricht in die Wirtschaftskrise?

Schäfers bezieht die Energie über einen lokalen Versorger, das meiste kommt aus Russland. „Ich weiß, dass wir mit unseren Produkten indirekt den Krieg finanzieren“, sagt er. „Und gleichzeitig weiß ich, dass Hunderte Existenzen davon abhängen, dass wir weiter produzieren.“

Der Unternehmenschef aus Brandenburg steckt in einem Dilemma. Er ist nicht der Einzige. Millionen Menschen treibt die Frage um, ob Deutschland jetzt aus russischem Gas aussteigen und damit schwerwiegende Folgen für Wirtschaft und Wohlstand riskieren sollte.

Moral allein hilft nur bedingt weiter

Von einem moralischen Standpunkt lässt sich die Frage nur mit ja beantworten. Was sind ein paar fehlende Prozente beim Bruttoinlandsprodukt gegen vergewaltigte Frauen und getötete Kinder in Butscha, Irpin oder Mariupol? Doch Moral allein hilft in der Sache nur bedingt weiter. Denn niemand kann mit Sicherheit sagen, ob Russlands Präsident Wladimir Putin das Morden im Falle eines Embargos tatsächlich beenden würde. Könnte es nicht sogar sein, dass alles noch viel schlimmer würde, wenn Russland nichts mehr zu verlieren hätte? Und wäre es nicht töricht, wenn Deutschland sich dann in eine schwere Wirtschaftskrise gestürzt hätte?

Es gibt keine Gewissheit in diesen Fragen, und deshalb führen sie zu Streit. Deutschlands Ökonomen tragen seit Wochen einen öffentlichen Zwist aus, der bisweilen an eine Schlammschlacht erinnert. Embargogegner müssen sich in Anlehnung an die britische Appeasementpolitik gegenüber Nazi-Deutschland als „Beschwichtiger“ schelten lassen, Befürwortern wird „Realitätsferne“ vorgeworfen. In den sozialen Medien sind die Beschimpfungen so übel, dass sich der Wirtschaftsweise Achim Truger genötigt sah, zum verbalen Waffenstillstand aufzurufen.

„Unternehmen wären in ihrer Existenz bedroht“

Der bekannteste Embargogegner ist Michael Hüther. „Viele Unternehmen wären in ihrer Existenz bedroht“, sagt der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Ein Boykott russischen Öls sei machbar, die Importe ließen sich bis Jahresende ersetzen. Beim Gas aber gehe das wegen der Pipelines nicht, „da hätten wir schlichtweg eine Versorgungslücke“, erklärt Hüther.

Sein Institut hat ausgerechnet, dass wichtige Wirtschaftszweige bis Ende des Jahres kaum auf Gas verzichten können: Das Einsparpotenzial in der chemischen Industrie liege bei nur 4 Prozent, bei Glas- und Keramik bei 7,6, im Fahrzeugbau bei 8,9. Gesetzlich vorgeschrieben sei zudem, dass Privathaushalte bevorzugt Gas bekämen, auch Kraftwerke müssten als Fernwärmelieferanten versorgt werden. „Es träfe also die Industrie und vor allem die Grundstoffproduktion“, so Hüther. Das hätte Folgen für ganze Wertschöpfungsketten, am Ende könnten überall die Bänder stillstehen.

„Es gibt keine Alternative zu Gas“

Hüther prophezeit Produktionsausfälle und Arbeitslosigkeit, Zahlen aber nennt er nicht. Die genauen Auswirkungen sind aus seiner Sicht nicht seriös prognostizierbar. Das sieht Rüdiger Bachmann, der derzeit lauteste Embargobefürworter, völlig anders. Mit deutschen Kolleginnen und Kollegen hat der in den USA lehrende Ökonom bereits Anfang März durchgerechnet, was ein Gaslieferstopp kosten würde. Auf Grundlage aktueller Wirtschaftsmodelle kamen sie auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. An der Rechnung gab es Kritik, Bachmann und Kollegen würden unterschätzen, wie schwierig es in manchen Branchen sei, Gas zu ersetzen.

In der Fliesenproduktion von Fabian Schäfers etwa geht nichts ohne Gas. „Es gibt keine Alternative“, sagte er. „Mit Strom könnten wir die für den Brennvorgang nötigen Temperaturen nicht erreichen.“ Auf solche Fälle haben die Ökonomen reagiert. Mittlerweile gehen Bachmann und Mitstreiter von einer Rezession in der Größenordnung der Corona-Pandemie aus, falls das Gas vom einen auf den anderen Tag abgeschaltet wird. Das wäre ein Einbruch der Wirtschaftsleistung um 4,9 Prozent und entspricht in etwa dem, was auch der Wirtschaftsweise Truger aus dem Lager der Embargoskeptiker prognostiziert – der indes betont, dass die Schäden auch größer ausfallen könnten. Unterm Strich geht es um rund 200 Milliarden Euro, die Deutschlands Wirtschaft 2022 fehlen könnten

Die Politik folgt den Skeptikern

Die Schlussfolgerungen allerdings könnten unterschiedlicher kaum sein. Bachmann glaubt, dass ein Lieferstopp „funktionieren“ könne – eine „kluge Wirtschaftspolitik“ mit Einsparungen, Kurzarbeit, Unternehmenshilfen und Sozialleistungen vorausgesetzt. „Ich sehe keine andere Möglichkeit, als Russland so zu destabilisieren, dass es künftig die Finger von anderen Staaten in Europa lässt.“ Truger indes fürchtet eine Rezession, die den industriellen Kern trifft: „Es wäre dann eine Mammutaufgabe, Jobverluste, Firmenpleiten und negative Verteilungswirkungen effektiv abzufedern.“

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) halten die Argumente der Skeptiker für überzeugender. „Wir verfolgen ja eine Strategie, uns unabhängig von russischem Gas, von Kohle, vom Öl zu machen“, wiederholt Robert Habeck immer wieder. „Nur eben nicht sofort.“ Bei Kohle ist der Entschluss für einen Importstopp am Donnerstag auf EU-Ebene gefallen, beim Öl könnte es in Kürze so weit sein, beim Gas aber dürfte es dauern. „Ohne russisches Gas kommen wir nicht durch den nächsten Winter“ – den Satz hört man derzeit häufig.

Nervöse Rohstoffbörsen spielen Putin in die Hände

Wer mit Gas zu tun hat, beobachtet nun mit bangen Blicken die Preise für Dutch TTF, die Referenzsorte für den europäischen Markt. Wie ein Seismograf zeigt die Preisentwicklung der Terminkontrakte an, wie es um den Krieg in der Ukraine und die Versorgung für den nächsten Winter bestellt ist. Vergangene Woche gingen die Notierungen nach unten, weil es wärmer wurde und starker Wind viel Ökostrom ins Netz wehte. Gaskraftwerke konnten ihre Leistung drosseln. In normalen Jahren würde sich der Trend nun verstärken, weil das Ende der Heizperiode naht. Widowmaker (Witwenmacher) nennen das die Händler, was derzeit besonders makaber klingt.

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Am Freitagvormittag allerdings schossen die Notierungen rapide in die Höhe. Meldungen über Angriffe russischer Truppen auf eine Gasverdichterstation in der Region Luhansk waren die Ursache. Das zeigt, wie nervös die Rohstoffbörsen sind. Und es spielt Putin in die Hände. Die Experten des Finanzdienstes Bloomberg nehmen an, dass Russland in diesem Jahr rund 320 Milliarden Dollar mit Energieexporten verdienen wird, ein Drittel mehr als 2021. Eine Megawattstunde Dutch-TTF-Gas kostete am Freitagmittag etwa 109 Euro. Vor einem Jahr waren es um die 16 Euro gewesen. Putin, das ist die bittere Wahrheit, profitiert von der Unsicherheit.

Utopie oder wirkliche Möglichkeit?

Der einzige Ausweg ist, die Abhängigkeit von russischer Energie zu reduzieren. Wie das funktionieren kann, hat die Brüsseler Denk fa brik Bruegel durchgespielt. Es müsse in den nächsten Monaten so viel Flüssiggas (LNG) wie irgend möglich nach Europa geschafft werden, um die Speicher für den Winter aufzufüllen. Brennstoff und Kosten müssten fair verteilt werden, zudem müsse die EU verhindern, dass sich Mitgliedsländer beim LNG-Einkauf gegenseitig in die Höhe bieten.

Trotzdem wird es teuer. 12 Milliarden Euro hat das Auffüllen der Gasspeicher in den vergangenen Jahren gekostet, dieses Jahr könnten bis zu 70 Milliarden Euro fällig werden. An massiven staatlichen Hilfen würde kein Weg vorbei führen. Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft warnt bereits vor „schweren Verwerfungen“, sollten Gaslieferungen ausfallen. „Die aktuellen Bestrebungen, die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen so schnell wie möglich zu reduzieren, sind mehr als verständlich – wir müssen jedoch aufpassen, dass die Wirtschaft bei diesem Ablösungsprozess nicht unter die Räder kommt“, sagt Bundesgeschäftsführer Markus Jerger.

Die Bundesregierung müsse kleinere Unternehmen im Blick behalten und alles versuchen, um die Bedeutung von Gas im Energiesystem zurückzudrängen: „Die deutsche Wirtschaft ist anpassungsfähig, sie braucht nur die richtigen Rahmenbedingungen und die entsprechende Unterstützung.“ Das sieht auch Fabian Schäfers aus Vetschau so. Er bezahlt schon jetzt mehr als eine Million Euro zusätzlich für Energie – jeden Monat. „Selbst für gesunde Unternehmen wie uns ist das nicht auf Dauer abzufedern“, sagt er. Auf das Dach seiner Fabrik hat er die größte Solarstromanlage Brandenburgs gesetzt. „Auch wir wollen so schnell wie möglich weg von Lieferungen aus Russland“, sagt er. (rnd)

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