Inflation und explodierende EnergiekostenSo gehen europäische Länder mit der Krise um

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Heizung

Symbolbild

Ein Gespenst geht um in Europa: Seit die Inflation die Preise in die Höhe treibt und der Krieg gegen die Ukraine sowie die gesenkten Gaslieferungen die Energiekosten explodieren lassen, fürchtet nicht nur Deutschland die kalte Jahreszeit. Wo die Regierungen die Preise frühzeitig abstützten, fällt die Teuerungsrate geringer aus. Besonders angespannt ist die Lage dort, wo ausgerechnet jetzt Wahlen anstehen. Gemeinsam haben europäische Staaten jedenfalls eins: Überall sucht man nach Entlastungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger – und schwört das Land auf harte Zeiten ein.

Düstere Aussicht im Königreich

Von Susanne Ebner

Was die Menschen in Großbritannien laut Prognosen erwartet, klingt bedrohlich. Die schottische Hilfsorganisation Citizens Advice Scotland warnte diese Woche davor, dass viele diesen Winter vor der Wahl stünden zu frieren oder zu hungern. Die Energiepreisobergrenze für Haushalte liegt ab Oktober bei rund 4200 Euro jährlich und könnte Anfang des kommenden Jahres auf knapp 6000 Euro steigen. Die Inflationsrate knackte im Juli die 10-Prozent-Marke, Tendenz steigend. Mit drastischen Folgen: Rund 50 Prozent der Haushalte könnten in Armut verfallen. Um dem Problem zu begegnen, hatte die konservative Regierung unter Boris Johnson im Frühjahr beschlossen, dass jeder Haushalt mit etwa 480 Euro entlastet werden soll – laut Experten jedoch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Nochpremierminister Boris Johnson betonte zwar, dass weitere Schritte nötig seien, um die Bevölkerung zu unterstützen. Wie diese aussähen, überließe er jedoch dem neuen Premier. Die oppositionelle Labour-Partei hat nun einen konkreten Vorschlag gemacht. Sie fordert, die Energiepreise beim derzeitigen Niveau einzufrieren.

Holland in Not

Von Helmut Hetzel

„Wir haben hier in der Stadt schon schätzungsweise 250 Obdachlose. Und es werden immer mehr“, sagt Lucy Geertman, Seelsorgerin und Pfarrfrau, die sich in der niederländischen Grenzstadt Nimwegen um die vielen Obdachlosen kümmert.

Nimwegen ist keine Ausnahme mehr. Die Energiekrise, die steigende Inflation von jetzt schon 11,6 Prozent, der riesige Arbeitskräftemangel und die Wohnungsnot – das alles beutelt die Niederlande. Die Armut wächst. „1,4 Millionen Niederländern droht die Armut“, warnt das regierungsamtliche Wirtschaftsforschungsinstitut Centraal Planbureau in einer aktuellen Studie. Darin heißt es weiter, dass etwa 20 Prozent aller niederländischen Haushalte in diesem Winter voraussichtlich ihre Gas- und Stromrechnungen nicht mehr werden bezahlen können. Die Niederlande bekommen schon heute kein Gas mehr aus Russland. Daher denkt man darüber nach, die Gasförderung im riesigen Erdgasfeld in Groningen wieder hochzufahren. Dort schlummern noch 500 Milliarden Kubikmeter Gas unter der Erdoberfläche.

Die christlich-liberale Regierung unter Premierminister Mark Rutte versucht, den Geringverdienern zu helfen. Sie hat beschlossen, dass die niedrigen Einkommensgruppen, das sind Haushalte, die nur 1756 Euro netto im Monat zur Verfügung haben, pauschal einen Energiezuschuss von 1300 Euro erhalten werden. Auch die Energiesteuer und die Mehrwertsteuer auf Energie soll gesenkt werden.

Schwedens Stromproblem

Von Julia Wäschenbach

Von russischem Gas ist Schweden wesentlich weniger abhängig als andere europäische Länder. Aber die Stromkosten treiben Bürger und Unternehmen um. Im südschwedischen Schonen steht es besonders schlimm. Der Strom wird – durch Atomkraftwerke, Solar und Windanlagen – überwiegend im dünn besiedelten Norden produziert und im bevölkerungsreichen Süden verbraucht. Dieser Situation ist es geschuldet, dass der Strommarkt in vier Bereiche mit unterschiedlichen Preisen gegliedert ist. Faustregel: je südlicher, desto teurer.

Explizit zum Sparen aufgerufen hat die Regierung die Schweden bislang nicht – was auch daran liegen dürfte, dass in wenigen Wochen Parlamentswahlen anstehen. Stattdessen versprach Ministerpräsidentin Magdalena Andersson, die Haushalte angesichts der hohen Strompreise mit mehreren Milliarden Euro zu entlasten.

Steigt wegen des Gasmangels etwa auf deutscher Seite die Nachfrage nach Strom aus anderen europäischen Ländern, könnte sich das noch dramatischer auf die Preise in Schweden auswirken.

Kraftakt in Polen

Von Aleksandra Fedorska

Polen hat seit der Invasion Russlands in der Ukraine mehrere Millionen Schutzsuchende aus der Ukraine aufgenommen. Innerhalb von wenigen Wochen hat Polen, das selbst 38 Millionen Einwohner zählt, für weit über vier Millionen meist Frauen und Kinder Unterkunft, Verpflegung und sonstige Versorgung gefunden – ein Kraftakt für das Land. Das letzte halbe Jahr hat nicht nur die Ukraine verändert, sondern auch Polen, das über sich selbst hinausgewachsen ist. Man fühlt es deutlich, dieses Gefühl, dass jetzt alles möglich ist und dass man jeder Herausforderung der Geschichte gerecht werden kann. Das ändert zwar wenig daran, dass die rasende Inflation von aktuell 15,6 Prozent die privaten Haushalte schwer belastet, aber die Zuversicht ist da, dass man auch das hinbekommt.

Die kommende Heizsaison dürfte auch für Polen schwer werden. Zwar ist Polen nicht abhängig vom russischen Erdgas, aber man befürchtet, dass es zu Lücken bei der Versorgung mit Kohle kommen könnte. Dabei ist die Kohle die wichtigste Energiequelle des Landes. Bei der Stromversorgung macht die Kohleverbrennung einen Anteil von rund 70 Prozent aus. In der Wärmeversorgung ist der Anteil ebenfalls enorm. Damit sich die Bürger mit Kohle für den Winter eindecken können, hat die polnische Regierung eine Zuzahlung von umgerechnet 630 Euro bewilligt.

Frankreich an der Grenze

Von Michel Evers

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat in diesen Tagen ein düsteres Bild von der Zukunft des Landes gezeichnet. Er sprach vom „Ende des Überflusses, der Sorglosigkeit und der Gewissheiten“. „Unser System der Freiheit hat einen Preis, der Opfer erfordern kann.“

Ein Konzept zum Energiesparen sowie zur künftigen Energieversorgung werde Premierministerin Élisabeth Borne im September vorlegen, kündigte ein Regierungssprecher an. Wie kein anderes Land habe Frankreich die Kaufkraft der Bevölkerung mit Milliardenaufwand gestützt, die Inflation liege mit 6,8 Prozent niedriger als in den meisten anderen Ländern, sagte der Regierungssprecher. Mit Blick auf die Staatsfinanzen und das öffentliche Defizit hätten die Stützungsmaßnahmen aber Grenzen. So werde sich die bis Jahresende verlängerte Deckelung der Strom- und Gastarife für Endverbraucher nicht dauerhaft in bisherigem Umfang fortsetzen lassen können.

Frankreich ist weniger von russischem Gas abhängig als Deutschland. Zur Stromversorgung setzt Paris weiterhin auf Atomkraft – auch auf neue Werke. Zur Zeit sind allerdings 27 der 56 Reaktoren abgestellt. Bei fast allen übrigen läuft die Produktion eingeschränkt. Ein Grund dafür liegt an der derzeitigen Trockenheit: Ist die Flusstemperatur zu hoch, dürfen Atomkraftwerke nicht mehr deren Wasser für ihre Kühlung benutzen. Laut dem französischen Energiekonzern EDF wird 2022 deswegen rund ein Viertel weniger Strom produziert. Da die Atomkraftwerke allerdings rund 67 Prozent des Strombedarfs in Frankreich abdecken, schnellen die Preise aufgrund der Knappheit in die Höhe. Deutschland liefert aktuell mehr Strom nach Frankreich als Frankreich nach Deutschland.

Italien hält durch – bis jetzt

Von Dominik Straub

Italien hat der Krise bisher recht gut getrotzt: Von allen G7-Staaten wies das Land im zweiten Quartal 2022 mit 3,4 Prozent das stärkste Wirtschaftswachstum aus, die Arbeitslosenquote ist tief wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Dies ist zu einem guten Teil das Verdienst von Ministerpräsident Mario Draghi: Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) hat frühzeitig Maßnahmen gegen die Verteuerung der Energiepreise, zur Entlastung der Unternehmen und zur Stärkung der Kaufkraft ergriffen. So hat die Regierung schon am 22. März – als erste in Europa – die Mineralölsteuer um 30 Cent pro Liter gesenkt und die Stromrechnungen verbilligt.

Unternehmen, die viel Energie verbrauchen, erhalten Steuergutschriften. Im Juli haben außerdem alle Italienerinnen und Italiener, deren Bruttoeinkommen unter 35 000 Euro liegt, einen Einmalzuschuss von 200 Euro erhalten.

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Doch dann haben die drei Populisten Giuseppe Conte (Fünf-Sterne-Bewegung), Matteo Salvini (Lega) und Silvio Berlusconi (Forza Italia) im Juli den erfolgreichen und beliebten Premier aus einer Laune heraus gestürzt; das Land steht vor Neuwahlen. Die Mehrheit der Italiener macht sich nun große Sorgen.

Wegen der weiterhin steigenden Gas- und Strompreise drohe bis Anfang 2023 rund 120 000 Betrieben die Schließung, warnte Gewerbeverbandspräsident Carlo Sangalli. Doch nun sind Draghi die Hände gebunden: Weil er nur noch geschäftsführend im Amt ist, kann er lediglich Hilfen beschließen, die das Defizit im Staatshaushalt nicht erhöhen. Das Einzige, was jetzt noch helfen könnte, wäre die von Draghi seit Monaten geforderte Deckelung des Gaspreises auf EU-Ebene.

Die iberische Ausnahme

Von Martin Dahms

Im Gegensatz zu den Europäern jenseits der Pyrenäen muss auf der Iberischen Halbinsel niemand fürchten, dass ihm zum Ende des Jahres der Gashahn abgedreht wird. Spanien und Portugal beziehen um die 10 Prozent ihres Erdgases aus Russland, können aber bei Bedarf leicht auf andere Lieferanten umstellen. Eine Regasifizierungsanlage in Portugal und sechs in Spanien können Flüssiggas aus aller Welt empfangen.

Die – oft beklagte – Beinahe isolierung der Iberischen Halbinsel vom Rest des europäischen Energiemarktes hat sich für Spanien und Portugal als Glücksfall erwiesen. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez nennt das „die iberische Ausnahme“, und die soll Spaniern und Portugiesen nun einmal von Nutzen sein. Im März handelten Sánchez und sein portugiesischer Kollege António Costa mit den EU-Partnern einen nur hier im Südwesten gültigen, einigermaßen komplexen Strompreismechanismus aus, der die Subvention von Gas für die Elektrizitätserzeugung erlaubt. Die Stromrechnung fällt dadurch zwischen 16 und 18 Prozent niedriger aus. Ein paar Monate später einigten sich die beiden Regierungschefs mit der EU-Kommission darauf, den Gaskonsum ihrer Länder nicht wie im Rest der Union um 15, sondern um 7 Prozent zu senken.

Auch ohne diese Vereinbarung ist der konventionelle Gasverbrauch auf der Iberischen Halbinsel in diesem Jahr bereits stark zurückgegangen, in Portugal bis Ende Juli um gut 20 Prozent und in Spanien bis zum vergangenen Freitag um knapp 15 Prozent. Andererseits wird deutlich mehr Gas für die Stromerzeugung verbrannt als im vergangenen Jahr, wofür es viele Gründe gibt; einer davon ist die oben erwähnte Subvention. Was die Iberer aber vor allem zum Sparen anhält, sind die hohen Preise für alles. Die portugiesische Inflationsrate lag im Juli mit 9,4 Prozent leicht unterm EU-Schnitt, die spanische mit 10,7 Prozent leicht darüber.

Die noch größere Sorge aber ist hier, ob sich zur Inflation zusätzlich eine Rezession gesellen wird. Noch sagen alle Institutionen Wachstum in beiden Ländern für dieses und fürs kommende Jahr voraus.

Griechenland gibt Geld aus

Von Gerd Höhler

Die griechische Regierung greift jetzt besonders tief in die Staatskasse, um die Energiepreisexplosion für Haushalte und Unternehmen abzufedern. Bisher hat sie 2022 bereits 6 Milliarden Euro für Energiesubventionen ausgegeben. Das entspricht 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Allein im September will Finanzminister Christos Staikouras weitere 1,9 Milliarden locker machen. Das Geld fließt an die Stromversorger, die damit die Tarife niedrig halten sollen. Mit 639 Euro bezuschusst der Staat die Megawattstunde.

Damit werden für die privaten Verbraucher 94 Prozent und für kleine und mittelgroße Firmen 89 Prozent der Strompreiserhöhungen aufgefangen. Ein Haushalt mit einem Verbrauch von 400 Kilowattstunden zahlt dank der Subvention statt 350 nur 60 Euro im Monat. Großunternehmen bekommen eine Subvention von 50 Prozent. Die Kosten für die Zuschüsse werden zum Teil aus einer Übergewinnsteuer bestritten, mit der die Gewinne der Stromversorger, die über das „normale“ Maß hinausgehen, zu 90 Prozent abgeschöpft werden.

Einen Gasnotstand erwartet man aber nicht, selbst wenn Russland den Hahn ganz zudrehen sollte. Nur 9 Prozent des Energieverbrauchs entfallen auf russische Gaslieferungen, die Griechenland aus der Schwarzmeerpipeline Blue Stream über die Türkei bezieht. Griechenland hat bereits seit 1999 ein LNG-Terminal auf der Insel Revithousa bei Athen. Über die Anlage, deren Kapazität jetzt vergrößert wurde, bekommt das Land verflüssigtes Erdgas aus den USA, Katar und Algerien.

Um Energie zu sparen, dürfen seit Juni Klimaanlagen in öffentlichen Gebäuden nicht kälter als auf 27 Grad eingestellt werden. Auch bei der Straßenbeleuchtung und der Illuminierung öffentlicher Gebäude sowie antiker Stätten wie der Athener Akropolis gibt es Einschränkungen. Damit will die Regierung den Stromverbrauch im öffentlichen Sektor um 10 Prozent senken.

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