Interview mit Militärhistoriker„Wir müssen raus aus unserem strukturellen Pazifismus“

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Militärhistoriker Sönke Neitzel hält die Bundeswehr für nicht einsatzfähig.

  • Im Interview spricht Militärhistoriker Sönke Neitzel über die Irrtümer des Westens und die Mängel in der Ausstattung der Bundeswehr.

Herr Neitzel, wie nehmen Sie als Militärhistoriker wahr, was Wladimir Putin in der Ukraine tut?

Sönke Neitzel: Man muss ehrlicherweise sagen, dass niemand den Angriff Russlands für wahrscheinlich gehalten hat. Ich auch nicht. Alle glaubten, der Truppenaufmarsch sei eine Drohkulisse, um auf dem Verhandlungsweg Erfolge zu erzielen. Dass Wladimir Putin, wie sich jetzt zeigt, offenbar von vornherein entschlossen war, diesen Weg zu gehen, überrascht dann doch.

Waren wir alle naiv?

Ja, das würde ich absolut so sehen. Dass in Europa ein Land ein anderes überfällt, war außerhalb unserer Vorstellungskraft. Das müssen wir uns alle ankreiden.

Und nun?

Die Frage ist jetzt: An welchem Punkt hört Putin auf, wenn er sogar zu diesem Schritt in der Lage war? Letztlich hat Putin ja sogar indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Das lässt Schlimmes erahnen, was auch die baltischen Staaten anbelangt. Die Nato sieht zwar zurzeit keine Bedrohung ihres Territoriums, aber wer weiß. Deshalb müssen wir einen Schritt weiter gehen und fragen: Wie verteidigungsfähig sind wir eigentlich? Und haben wir seit 2014 eigentlich genug getan, um uns verteidigen zu können? Da sehen wir, dass die Bundeswehr immer und immer wieder gewarnt hat, wir müssten die Verteidigungsfähigkeit und die Strukturen verbessern. Wir müssen raus aus unserem strukturellen Pazifismus. Das ist bisher nicht gelungen. Die Fähigkeit, den osteuropäischen Staaten militärische Hilfe zu leisten, ist extrem begrenzt.

Der Inspekteur des Heeres hat gesagt, die Bundeswehr sei blank.

Da hat er recht. Davor warne ich seit Langem. Ich habe immer gesagt, das wird sich erst ändern, wenn es zu spät ist. Man bekommt keine leistungsfähige Armee auf Knopfdruck.

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Woran fehlt es?

Die Bundeswehr ist nicht in der Lage, ein längeres hochintensives Gefecht zu führen. Sie ist nach wie vor dysfunktional organisiert. Es gibt keine klaren Strukturen und Verantwortlichkeiten, immer noch nicht. Es gibt zu wenig Munition und sonstiges Material. Die Deutschen haben keine richtige Flugabwehr, keine einsatzfähigen Kampfhubschrauber und zu wenig Artillerie. Man könnte die Brigaden des Heeres nicht guten Gewissens in den Kampf schicken.

Wie lange würde es dauern, diese Fähigkeit herzustellen?

Man könnte bestimmte Waffensysteme bei den Amerikanern kaufen oder auf dem Weltmarkt. Dann wären sie auch schnell verfügbar. So gesehen könnte man die Kampffähigkeit der Bundeswehr innerhalb von zwei bis drei Jahren massiv erhöhen – wenn man wollte. Und die Soldaten der Bundeswehr wollen ja. Es gibt keinen Mangel an Erkenntnis, sondern an Umsetzung. Allerdings bleiben Strukturreformen auch dann notwendig, um die Bundeswehr effizienter zu machen. Die Bundeswehr ist ein großer Verwaltungsmoloch, der nicht auf Effizienz in einem Krieg ausgerichtet ist. Wir haben den Verteidigungsetat zwar zuletzt sehr erhöht. Aber was wir hinten rausbekommen haben, war sehr bescheiden.

Wie geht es in der Ukraine weiter?

Das können wir jetzt nicht absehen. Aber je länger der Krieg dauert, desto schlechter ist es für Putin. Denn desto mehr hat der Westen die Möglichkeit, der Ukraine zu helfen und Waffen zu liefern. Aber wir wissen natürlich nicht, wie lange der Konflikt dauern wird. Das ist jetzt „der Nebel des Krieges“, von dem Clausewitz gesprochen hat.

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