25 Jahre an der MachtWarum der Westen keine Mittel gegen Lukaschenko hat

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Alexander Lukaschenko

Hat er schließlich doch überzogen? Auf den ersten Blick sieht es so aus. Die Entscheidung des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko, des 26-jährigen Regimekritikers Roman Protassewitsch habhaft zu werden, indem er eine irische Passagiermaschine am Pfingstsonntag auf dem Flug zwischen zwei EU-Hauptstädten über belarussischem Luftraum zur Zwischenlandung in Minsk nötigt, zwang die EU zu vereintem Widerstand.

In seltener Eintracht beschlossen die 27 EU-Staats- und -Regierungschefs und -chefinnen am Folgetag in Brüssel, es nicht nur bei der Verurteilung des Vorfalls zu belassen und eine Untersuchung durch die Internationale Zivilluftfahrtorganisation sowie die Freilassung von Protassewitsch und seiner Partnerin zu fordern. Vielmehr verabschiedeten sie weitere Zwangsmaßnahmen: Belarussische Fluggesellschaften können den Luftraum der EU künftig nicht mehr nutzen, und ihre Start- und Landrechte auf EU-Flughäfen sind gestrichen. De facto ist die belarussische Flugindustrie damit zerstört, denn es bleiben ihr nur noch wenige Destinationen, Moskau etwa, oder Peking. Zudem wird die Union die Liste mit Personen und Unternehmen erweitern, für die Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gelten sollen.

Setzen die EU-Sanktionen den Diktator wirklich unter Druck?

Dabei zeigte sich in den vergangenen Monaten gerade am Beispiel Belarus, wie schwer sich die EU tut, als Akteur in der internationalen Politik aufzutreten. Denn an Sanktionen, das wichtigste Werkzeug der EU-Außenpolitik, sind hohe Anforderungen geknüpft. So müssen die erhobenen Vorwürfe gerichtsfest sein, und vor allem bedarf es der Zustimmung aller 27 Mitglieder, was rasche Reaktionen in aller Regel hemmt. Noch im vergangenen Jahr hatte sich die Union blamiert, als sie nach der manipulierten Präsidentschaftswahl in Belarus knapp drei Monate brauchte, um 40 belarussische Funktionäre zu sanktionieren, die der Wahlfälschung und der Niederschlagung friedlicher Proteste beschuldigt werden. Der Grund: Zypern hatte seine Zustimmung von Strafmaßnahmen gegen die Türkei abhängig gemacht.

Gemessen daran war der Sondergipfel eine lobenswerte Ausnahme. Doch setzen die Strafmaßnahmen den Machthaber in Minsk tatsächlich ernsthaft unter Druck? Die Leser der russischen Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“ glauben nicht daran. Bei einer Onlineabstimmung entschied sich die überwältigende Mehrheit von 94,6 Prozent der 11 600 teilnehmenden User und Userinnen bei der Frage „Wird Lukaschenko Roman Protassewitsch unter dem Druck internationaler Sanktionen freilassen?“ für die Antwort „Wird er nicht tun, und Russland wird die Sanktionen bezahlen“.

Die Reisebeschränkungen treffen die Bürger

Doch wer bedenkt, dass der Diktator seit 1994 im Amt ist, obwohl er schon oft am Ende zu sein schien – etwa als er nach der manipulierten Präsidentschaftswahl von 2010 Proteste niederknüppeln ließ und daraufhin von der EU und den USA scharf sanktioniert wurde –, muss den Lesern der „Nowaja Gaseta“ einen gewissen Realitätssinn zugestehen. Das dürfte daran liegen, dass die EU-Strafmaßnahmen Lukaschenko selbst kaum wehtun: „In den 26 Jahren unternahm er vielleicht vier bis fünf Staatsbesuche in westeuropäischen Ländern“, erklärt Maxim Samorukow, Belarus-Experte im Moskauer Büro der US-Denkfabrik Carnegie Foundation, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Die Reisebeschränkungen träfen nicht den Diktator, sondern vor allem die Bürger des Landes: „Denen wird die Ausreise aus Belarus in den Westen nun noch schwerer gemacht, als sie es in Corona-Zeiten ohnehin schon ist“, sagt der Politologe. Gerade für die politische Opposition ist das bitter. Denn das Ausland als Zufluchtsort ist für sie wichtig, und sei es nur zum Verschnaufen. Jewgenij Lipkowitsch etwa macht keinen Hehl daraus, wie schmerzhaft für ihn persönlich die Einschränkung ist. Der Blogger und Lukaschenko-Kritiker aus Minsk betrachtet seine bisherigen Reisen als Möglichkeit, ein Optimist zu bleiben, obwohl das Regime ständig versuchen würde, ihn in die Depression zu treiben: „Wenn dieses Hintertürchen nun auch noch geschlossen wird“, sagt er, „dann wird das Leben in Belarus noch härter. Es ist sehr unangenehm, in einem Pariastaat zu leben.“

Sanktionen gegen nur zwei Unternehmen?

Solche Aussagen werfen die Frage auf, weshalb die EU nicht zielgerichteter gegen Lukaschenko durchgreift. Das wäre nach Ansicht der belarussischen Opposition durchaus möglich: Der im polnischen Exil lebende ehemalige belarussische Kultusminister Pawel Latuschka etwa äußerte sich vor Kurzem dem RND gegenüber verärgert: Es gebe bislang EU-Sanktionen gegen 80 Personen des Regimes und gegen zwei Unternehmen. Das sei lächerlich. Viel wirksamer wäre es nach Ansicht von Latuschka und weiteren Oppositionellen , die belarussischen Banken vom internationalen Zahlungssystemen auszuschließen oder die petrochemischen Unternehmen und Düngemittelhersteller des Landes mit Sanktionen zu belegen, um Lukaschenko von den Geldflüssen abzuschneiden.

Politologe Samorukow hat zwei Erklärungen dafür, warum das nicht geschieht. „Für die EU stellt Belarus nur einen Nebenkriegsschauplatz dar“, erklärt er. „Die Aufregung ist jetzt groß, doch in einigen Tagen wird sie abflauen, denn dann treten wieder wichtigere Themen in der EU in den Vordergrund, wie etwa die Pandemie.“ Zweitens sei es aus Sicht der Union gar nicht so leicht, Belarus zu sanktionieren: „Denn wirtschaftlich ist die gegenseitige Abhängigkeit schon jetzt gering.“

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Tatsächlich ist etwa das Außenhandelsvolumen zwischen Belarus und Russland etwa zehnmal so groß wie das zwischen Belarus und Deutschland. Wirtschaftlich fuhr Lukaschenko lange Zeit sehr gut damit, sich sowohl Richtung EU als auch gegenüber Russland zu öffnen: Der deutsche Nutzfahrzeughersteller MAN etwa unterhält ein Joint Venture mit dem belarussischen Lkw- und Bushersteller MAZ, während Russland Lukaschenkos Reich mit Öl und Gas zu vergünstigten Konditionen beliefert. Doch seit die EU im vergangenen Jahr Sanktionen aussprach, ist Belarus wieder näher an Russland herangerückt. Der belarussische Machthaber vermeidet damit, sich den westlichen Forderungen beugen zu müssen: „Er ist nicht in die Enge getrieben“, sagt der Minsker Politologe Artjom Schraibman. „Denn er kann sich auf Russland verlassen.“ Gerade heute treffen sich Lukaschenko und Kremlchef Wladimir Putin in Sotschi am Schwarzen Meer.

Der Machthaber in Minsk denkt immer nur in kurzen Etappen und sucht kleine Vorteile für ein, zwei Jahre, egal, ob in der Innenpolitik oder im Verhältnis zu Russland oder zum Westen. Diese Pluspunkte häufte er so an, dass dabei eine Herrschaft von langer Dauer herauskam: „Er ist nicht sehr intelligent und weit davon entfernt, ein Intellektueller zu sein“, sagt Samorukow. „Aber er hat einen sehr guten politischen Instinkt, ist extrem flexibel und passt sich immer an. Auf diese Art und Weise wird er auch die nächsten Jahre irgendwie überleben.“

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