Mehr als die NäheWarum wir bei Geflüchteten aus der Ukraine emotionaler sind als 2015

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Geflüchtete aus der Ukraine in einer Unterkunft in Polen

Berlin/Kiew – Hunderte von Geflüchteten kommen täglich am Berliner Hauptbahnhof an. Die Szenen, die sich dort abspielen, erinnern an die Ankunft der Geflüchteten aus Syrien vor sieben Jahren. Damals wie heute werden sie von den Deutschen mit offenen Armen empfangen. >> Alle Entwicklungen und Nachrichten zur Ukraine im Newsblog. Es wurden damals aber nicht so massenhaft Privatquartiere zur Verfügung gestellt wie heute, und gegenüber Flüchtenden aus Syrien, Nahost und Afrika ist die Distanz gewachsen.

Flüchtende gewaltsam zurückgedrängt

Auch in Polen, das derzeit mit Abstand die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer aufnimmt, ist das Engagement der Bevölkerung groß. Präsident Andrzej Duda brachte symbolhaft mehrere Familien in zwei Dienstvillen unter. Dabei ist es erst wenige Monate her, dass die polnische Regierung an der Grenze zu Belarus Zehntausende Polizisten und Soldaten aufmarschieren ließ, um den Ansturm von Flüchtenden aus dem Nahen Osten zu stoppen.

Und auch jetzt scheint Polen eine Zweiklassen-Gesellschaft zu betreiben. Zu Beginn des Krieges gab es Berichte darüber, dass polnische Beamte aus der Ukraine flüchtende Afrikanerinnen und Afrikaner aus rassistischen Gründen beim Grenzübertritt behindert haben sollen. Die Behörde weist diese Vorwürfe zurück.

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Eine Frau läuft in Mariupol durch den Hof des zerstörten Kinderkrankenhauses. (Archivbild)

Wie passt die Diskrepanz zusammen, dass es den Europäern offensichtlich leichter fällt, Flüchtende aus der Ukraine als aus weiter entfernten Regionen aufzunehmen?

Albert Scherr, Leiter des Instituts für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, forscht seit Jahrzehnten zu Migration, Diskriminierung und Rassismus. Er hat eine Erklärung dafür, warum die Ukrainerinnen und Ukrainer im Gegensatz zu flüchtenden Menschen anderer Nationalitäten so willkommen geheißen werden.

„Die ganze Situation ist aus verschiedenen Gründen anders. Sie werden als unschuldige Opfer eines brutalen Diktators wahrgenommen“, sagt Scherr. „Dazu kommen Geschlechterstereotypen: Die ankommenden Kinder sind sowieso unschuldig, und die Frauen sind verletzlich und haben einen besonderen Schutzanspruch.“

Politischer Diskurs veränderte sich

Den Umschwung in Polen erklärt der Wissenschaftler mit der gefühlten geografischen, sozialen und kulturellen Nähe zur Ukraine. „Die vorherrschende Meinung ist, das sind Europäer wie wir, das sind Menschen, die uns kulturell affiner sind, was zum Beispiel die Frage der Religion betrifft. Aus diesem Grund fühlen wir uns ihnen gegenüber anders verantwortlich als gegenüber Afrikanern.“

Auch die Geflüchteten aus Syrien seien zunächst als Opfer ihres Präsidenten wahrgenommen worden, die unverschuldet in Not geraten waren. Deswegen spielte es keine Rolle, dass sie keine Europäer waren. Doch mit der Zeit änderte sich die Stimmungslage, weiß Scherr. „Der politische Diskurs verschob sich dahin, wer die vermeintlich echten Flüchtlinge sind und wer die Situation aus unterschiedlichen Gründen ausnutzt.“

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Anteilnahme in Köln: Menschen verteilen auf dem Roncalliplatz Stofftiere als Zeichen für getötete Kinder.

Parallel entstand ein Streit darüber, ob Deutschland nicht bald an die Grenze der Belastbarkeit kommt, sollten sich weiterhin Menschen auf den Weg nach Europa machen. „Der dritte Punkt war die Kölner Silvesternacht 2015. Da ist das Bild gekippt“, erklärt der Forscher. „Es entstand die Figur eines bedrohlichen jungen Mannes, der sich hier gar nicht integrieren will.“ Diese Bilder würden bei den Menschen aus der Ukraine nicht greifen.

Gewöhnungseffekt tritt ein

Ein psychologischer Effekt trägt ebenfalls zu der unterschiedlichen Wahrnehmung bei. Bilder von ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer und vom abgebrannten Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos schockierten zunächst. „Aber dann ist sehr bald eine Gewöhnung eingetreten, weil solche Momente des Erschreckens sich nicht auf Dauer erstellen lassen“, erklärt Scherr.

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Die Menschen seien aus dem Fokus der Berichterstattung geraten und aus den Köpfen verschwunden. An dem Umgang mit ihnen hat sich deswegen seit Jahren nichts geändert. Die Seenotrettung wird von privaten Initiativen betrieben, und die meisten ehemaligen Bewohner Morias müssen weiter in einem Übergangslager ausharren.

Sea-Eye fordert staatlich organisierte Seenotrettung

Vertreter der Sea-Eye-Besatzung kämpfen dagegen an. Die Sea-Eye ist neben Sea-Watch, Open Arms und SOS Mediterranee eine der Organisationen, die in Seenot geratene Flüchtende auf dem Mittelmeer retten. „Ich hoffe sehr, dass wir in den kommenden Wochen eine Änderung der Politik gegenüber allen schutzsuchenden Menschen sehen“, sagt Gorden Isler, Sprecher und Vorsitzender von Sea-Eye. „Denn sonst kommt die Politik in ernsthafte Erklärungsnot und der seit Jahren geäußerte Vorwurf systemischen Rassismus wäre klar bewiesen.“

Isler fordert sichere Fluchtwege und humanitäre Korridore für alle Menschen und eine staatlich organisierte und flächendeckende Seenotrettung im gesamten Mittelmeer. „Die Hautfarbe, die Herkunft, der Glaube, die Armut von Menschen oder die Willkürlichkeit des Gefühls unserer eigenen Betroffenheit darf kein Grund für einen Unterschied bei diesen universellen Menschenrechten sein.“ So steht es übrigens auch in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951.

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