Militärstratege erklärtDiese Zukunftsszenarien sind im Ukraine-Krieg vorstellbar

Lesezeit 4 Minuten
Charkiw 1300722

Ein zerstörtes Wohnhaus in der Stadt Charkiw.

Mehr als 130 Tage sind vergangen, seit Russland mit seinem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat. Zwar scheiterten die russischen Streitkräfte bei ihrem anfänglichen Versuch, das gesamte Land blitzartig über mehrere Fronten einzunehmen. Mit der Einnahme der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk hat Moskau nun aber den ersten Schritt zur Eroberung des gesamten Donbass gemacht. Das nächste Ziel: die benachbarte Region Donezk. Wird Russland seinen brutalen Eroberungszug erfolgreich fortsetzen oder kann die Ukraine zurückschlagen? Wie wird sich der Krieg weiterentwickeln?

Der Schweizer Militärstratege Marcel Berni von der Militärakademie an der ETH Zürich geht davon aus, dass Russland in Donezk weiter an der Strategie festhalten werde, die es bereits bei der Eroberung von Lyssytschansk - der letzten ukrainischen Bastion in Luhansk - angewendet hatte. „Sie haben ihre große materielle und personelle Übermacht auf diese Stadt konzentriert, sie beinahe eingekesselt und dann einfach massiv beschossen“, sagt Berni dem RND. Er ist sich sicher: „Mit dieser Umzingelungstaktik werden sie in den kommenden Wochen und Monaten versuchen, ihr Minimalziel zu erreichen, den Donbass zu erobern.“

Russland will Slowjansk einkesseln

Im Blickpunkt steht dabei vor allem die strategisch wichtige Stadt Slowjansk. Der österreichische Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations berichtet, dass die Russen in der nördlich gelegenen Region Charkiw bereits „sehr viele Kräfte“ zusammenziehen würden, mit denen sie eine Einkesselung der Stadt versuchen könnten. „Das ist aber am Papier immer leichter zu entwerfen als in der Realität: Denn im Vergleich zum Raum Popasna-Lyssyschansk ist das Gebiet jetzt fünfmal so groß.“

Gressel und Berni betonen die Stärke der ukrainischen Stellungen in dem Gebiet, die einen schnellen Vorstoß Russlands wohl verhindern könnten. Ex-Nato-General Hans-Lothar Domröse glaubt dennoch: „Das wird blutig und sich noch über Wochen und möglicherweise Monate hinziehen“, wie er dem RND mitteilt. Berni bezweifelt allerdings große Geländegewinne Russlands. „Der Krieg geht weiter bis in den Herbst, mehr oder weniger entlang der jetzigen Frontlinie“, so das für ihn realistischste Szenario.

Domröse weist jedoch auch auf die russische Übermacht im Osten hin. „Die Ukraine muss langfristig ausweichen, weil Russland überlegen ist“, so der frühere Nato-General. Berni benennt das ukrainische Schreckensszenario: „Die ukrainischen Reihen könnten zusammenbrechen und den Russen gelingt es fast bis an die erste Linie im Westen vorzustoßen.“ Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer zeichnet das Bild weiter. „Nach der Eroberung der Oblasts Donezk wird Russland in den Winter übergehen und sich neu aufstellen“, sagt er dem RND.

Blutiger Guerillakrieg möglich

Wenn es zu einem Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung in Donezk kommt, bleiben der Ukraine zwei Möglichkeiten, führt Berni aus: „Entweder akzeptiert die Ukraine verlorenes Gebiet und bietet Hand zu Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen, oder sie kämpft in einem blutigen Guerillakrieg, der über Monate anhält, weiter.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Spätestens im Frühjahr müsse die Ukraine mit neuen Offensiven Russlands rechnen, glaubt Oberst Reisner. „Die russischen Truppen könnten dann bis nach Odessa vordringen und so die Ukraine zu einem Binnenstaat machen.“ Mehr noch: Sollte Russland dieses Ziel erreichen, „schwindet die Überlebensfähigkeit des Landes immer mehr“. Denn mehr als 90 Prozent der ukrainischen Wirtschaft würden dann in Russlands Händen liegen.

Auch deshalb strebt die Ukraine eine groß angelegte Gegenoffensive im Süden an. „Es geht darum, russische Kräfte zu binden und auch vom Donbass abzuziehen“, erklärt Berni. Derzeit ist der Großteil von Putins Soldaten in Luhansk und Donezk im Einsatz. Weil Russland beim Donezk-Feldzug schon jetzt an seine Grenzen stoße, ist sich Domröse sicher: „Ohne die Einführung neuer Kräfte schaffen sie die Eroberung nicht.“

Ukraine könnte Russland zurückdrängen

Die Ukraine kann dagegen mehr und mehr auf schwere Waffen aus dem Westen setzen. Auch deshalb ist es für den Schweizer Militärstrategen Berni durchaus realistisch, dass die Ukraine „die russischen Truppen - auch im Donbass - zurückzudrängen und auch im Süden wieder teils verlorene Gebiete zurückerobern“ könne.

Der Ex-Nato-General geht noch weiter: „Je nachdem, ob die Ukraine nun wirkungsvoll die westlichen Waffen einsetzen kann, wird man sehen, ob Putin weiterkommt oder ob es dann zu Friedens- oder Waffenstillstandsverhandlungen kommt“, so Domröse. Er halte das für durchaus möglich.

KStA abonnieren