Mögliche KonsequenzenPutin stellt das Gas ab – was, wenn er es nicht mehr anstellt?

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Nordstream 1-Pipeline in Mecklenburg-Vorpommern.

Moskau/Berlin – Die Bilder hatten etwas unfreiwillig Komisches. Ausgestattet mit Bauhelmen, Warnwesten und Rauchbomben hatte sich ein knappes Dutzend rechter Aktivisten am Montag Zutritt zum Gelände der der Ostsee-Pipeline NordStream 2 im vorpommerschen Lubmin verschafft und machte dort Krawall. Auf Internet-Videos ist zu sehen und zu hören, wie die Eindringlinge das „Aufdrehen“ der Pipeline einfordern und krakeelen, die Sache nun selbst in die Hand nehmen zu wollen.

Nun braucht es zum Glück etwas mehr, als ein paar Halbstarke mit Schraubenschlüssel, um eine 55 Milliarden-Kubikmeter-Pipeline in Betrieb zu nehmen, und die Polizei machte dem Spuk ein Ende. Doch die bizarre Inszenierung gab einen Vorgeschmack auf das, was Deutschland drohen könnte, falls im Winter tatsächlich das Gas ausgehen sollte.

Sorge vor „Volksaufständen“?

Mit „Volksaufständen“ müsse man dann rechnen, warnte Außenministerin Annalena Baerbock im Juli bei der Talk-Veranstaltung „RND vor Ort“ in Hannover. Volksaufstände? Na ja, antwortete Baerbock auf Nachfrage, das sei vielleicht „ein bisschen überspitzt“ ausgedrückt.

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Die Formulierung mag überspitzt gewesen sein, die Sorge aber ist real. Wenn Lieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 am heutigen Mittwoch zum zweiten Mal in diesem Sommer ausgesetzt werden, geht wieder die Angst vor Engpässen beim Gas um.

Turbulenzen am europäischen Gasmarkt

Drei Tage lang soll die wichtige Verbindung zwischen Russland und Deutschland stillstehen, so hat es der russische Staatskonzern Gazprom angekündigt und mit angeblich dringend notwendigen Wartungsarbeiten begründet. Nach Abschluss der Prüfung werde man wieder 33 Millionen Kubikmeter pro Tag liefern, also 20 Prozent der Pipelinekapazität – falls es keine weiteren technischen Probleme gebe.

Und falls doch? Was, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin den Hahn endgültig zudreht? Die Frage bewegt derzeit viele. Die Ankündigung aus Moskau reichte jedenfalls aus, um Turbulenzen am europäischen Gasmarkt auszulösen. An der Energiebörse in den Niederlanden brachen die als Referenzwert geltenden Terminkontrakte TTF sämtliche Rekorde. In der Spitze wurden 339 Euro für eine Megawattstunde (1000 Kilowattstunden) Gas bezahlt, das 26-Fache des Wertes von vor zwei Jahren.

Preise jenseits von Gut und Böse

Es sind Preise jenseits von Gut und Böse, und sie sind geeignet, die Architektur der europäischen Energieversorgung ins Wanken zu bringen. Denn erstens kann sich diese Preise niemand auf Dauer leisten, und zweitens steigen mit dem Gaspreis auch die Kosten für Strom in ungeahnte Höhen. Strom ist an der Börse immer so teuer, wie es das teuerste Kraftwerk vorgibt, dessen Leistung noch abgerufen wird.

Gaskraftwerke sind am teuersten, sie bestimmen den Preis. Und derzeit werden vor allem in Deutschland viele Gaskraftwerke benötigt. Nach Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE), wird in der laufenden Woche ein Fünftel der gesamten Stromnachfrage von Gaskraftwerken gedeckt. Das liegt an fehlendem Wind und an Problemen bei der Reaktivierung von Kohlemeilern, es liegt aber vor allem an der großen Stromnachfrage aus Frankreich.

Schluss mit der Kopplung von Strom- und Gaspreis

Mehr als die Hälfte der insgesamt 56 französischen Atomreaktoren sind derzeit abgestellt. Viele müssen außerplanmäßig gewartet werden, weil in einem AKW Korrosionsschäden entdeckt wurden.

Nach den Daten der Denkfabrik Agora Energiewende wird es seit gut zehn Tagen überdurchschnittlich viel Strom nach Frankreich exportiert, wodurch verstärkt Gaskraftwerke ans Netz gegangen sind und die Börsenpreise für elektrische Energie zu immer neuen Rekorden getrieben haben. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wollen nun Schluss machen mit der Kopplung von Strom- und Gaspreis.

Spanien für System von Preisobergrenzen

Doch was genau den Politikern vorschwebt, ist unklar. Die deutschen Pläne könnten auf eine Abgabe für Betreiber von Windanlagen, Solarparks und Kohlekraftwerken hinauslaufen, was im Grunde nichts anderes wäre als eine zusätzliche Gewinnbesteuerung. Selbst Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) soll Zustimmung signalisiert haben, auch wenn er von einer Übergewinnsteuer offiziell nichts wissen will. Womöglich wird man sich am Ende einen neutralen Namen überlegen müssen.

Spanien denkt in eine andere Richtung: Laut der Zeitung El Pais will die spanische Energieministerin Teresa Ribera bei einem Treffen mit ihren EU-Kollegen am 9. September vorschlagen, ein System von Preisobergrenzen beim Strom in der gesamten Union einzuführen. Ferner sollen Gaskraftwerke vom Börsenhandel mit der elektrischen Energie ausgeschlossen werden.

Vier Fragen für den kommenden Winter

An den Energiebörsen kommen solche Gedankenspiele gut an. Die Preise entspannten sich deutlich. TTF-Gas kostete am Dienstag zwar noch immer stolze 258 Euro pro Megawattstunde, aber das waren 25 Prozent weniger als noch Ende voriger Woche. Strom für Deutschland zur Lieferung im nächsten Jahr war für 610 Euro pro Megawatt zu haben. Noch am Montag mussten dafür zeitweise 1050 Euro gezahlt werden. Einige Händler reden bereits von einem Stimmungsumschwung.

Für die Versorgungssicherheit im kommenden Winter jedoch wird das kaum helfen, denn die hängt an vier Fragen: Wieviel Gas ist in den Speichern? Wieviel wird verbraucht? Wieviel kommt nach? Und wieviel geht an europäische Partner? Sicher beantworten lässt sich derzeit nur Frage eins: Die Speicher werden zu Beginn des Winters ziemlich voll sein. Laut Lagebericht der Bundesnetzagentur befindet sich der Gesamtspeicherstand in Deutschland derzeit bei 83,26 Prozent.

„Die Speicher füllen sich schneller als vorgegeben“

Das 85-Prozent-Ziel, dass die Bundesregierung für Oktober angepeilt hatte, dürfte bereits Anfang September erreicht werden. „Die Speicher füllen sich schneller als vorgegeben“, sagt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Auch in Europa geht es voran. Nach den Daten der Organisation Gas Infrastructure Europe (GIE) waren die Reservoire EU-weit am Sonntag zu 79,94 Prozent gefüllt – Ziel der EU sind 80 Prozent zum 1. November.

Grundlage für den deutschen Speichererfolg sind Einsparungen beim Verbrauch sowie verstärkte Lieferanstrengungen europäischer Staaten. Vor allem Norwegen und die Niederlande liefern zuverlässig nach Deutschland, hinzu kommt Flüssiggas (LNG), das per Tankschiff in belgischen und holländischen Häfen angelandet wird. Längst haben die Niederlande, Norwegen und Belgien Russland als wichtigsten Gaslieferanten Deutschlands abgelöst. Zusammen liefern sie beinahe die zehnfache Menge.

Gasverbrauch um 15 Prozent zurückgegangen

Gleichzeitig in der Gasverbrauch in Deutschland im ersten Halbjahr um knapp 15 Prozent zurückgegangen. Im Frühjahr war das Wetter mild, Heizungen konnten frühzeitig abgeschaltet werden. Die Industrie trug ebenfalls einen Teil bei – wenn auch nicht ganz freiwillig. „Vor allem das hohe Preisniveau senkte die Nachfrage“, heißt es beim Energiedachverband BDEW. Energieintensive Fertigungsprozesse werden zunehmend unrentabel. Das senkt zwar den Gasverbrauch, erhöht aber die Gefahr einer Wirtschaftskrise.

Deutlich schwieriger als die Frage nach den Füllständen ist die zu beantworten, wie es nun mit dem Verbrauch weitergeht. Experten gehen davon aus, dass die Gasnachfrage in den nächsten Wochen sinken wird – wegen niedrigerer Temperaturen und weniger Klimatisierungsbedarf in Süd- und Südosteuropa. Ab Oktober allerdings stellen viele Nordeuropäer die Heizung an, dann steigt der Verbrauch wieder. Vieles wird davon abhängen, wie kalt der Winter wird. Je länger und strenger der Winter, desto mehr Gas wird verbraucht.

Große Unsicherheiten bei Liefermengen

Noch größere Unsicherheiten als beim Wetter gibt es in der Frage der Liefermengen in den kommenden Monaten. Russland ist als Lieferant unkalkulierbar. Norwegen, die Niederlande und Belgien werden weiter liefern, und Bundeswirtschaftsminister Habeck hat noch zwei Asse im Ärmel: Noch in diesem Winter sollen in Wilhelmshaven und Brunsbüttel schwimmende Flüssiggasterminals vor Anker gehen. Zwei weitere folgen im Frühjahr.

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Es tut sich also was beim Gas, auch wenn die Gefahr noch lange nicht gebannt ist. Selbst wenn das Gas in diesem Winter reicht, könnte es im nächsten immer noch knapp werden, wenn Russland nichts mehr liefert. Putin jedenfalls, das scheint klar, wird weiterhin versuchen, so viel Unsicherheit wie irgendwie möglich zu verbreiten.

Meinungsverschiedenheiten über „Auslegung einiger Verträge“

Erst am Dienstag teilte der französische Energiekonzern Engie mit, dass Gasprom eine erneute Drosselung der Liefermengen angekündigt habe. Grund seien Meinungsverschiedenheiten über die „Auslegung einiger Verträge“. Bereits zuvor hatte Gazprom seine Lieferungen nach Frankreich deutlich reduziert.

Das gleiche Spiel wie mit Deutschland spielt Moskau derzeit mit nahezu allen Ländern, die es als feindlich einschätzt. Selbst eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 würde daran kaum etwas ändern - und wenn sie noch so laut von einige Wirrköpfen gefordert wird. (rnd)

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