Steigende PreiseWenn das Brot zum Luxus wird

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In den Schlangen vor den Tafeln beginnen Menschen miteinander zu konklurrieren.

Plötzlich gibt es doch Unruhe. Schon seit einer halben Stunde stehen die Menschen klaglos im Nieselregen vor dem Portal der Erlöserkirche in Berlin-Moabit an, eine Schlange geduckter, leise redender Frauen, Männer und Kinder, Kapuzen über dem Kopf, Einkaufswagen neben sich, Taschen in den Händen. Sie warten darauf, dass die Tafel aufmacht, die einmal in der Woche in der Kirche gerettete Lebensmittel an Bedürftige ausgibt.

Dann stürmt Helena nach vorne, schiebt ihre ausgemergelte Gestalt mit raumgreifenden Schritten an der Schlange vorbei. Sie wedelt mit einer gelben Karte, ruft etwas von unfair, Halbstundentakt, sie sei jetzt dran. Rolf Jaenke ist sofort bei ihr. Er kennt Helena, wie er alle Stammgäste hier kennt. Und alle kennen den 72-Jährigen mit dem schlohweißen Haar. In einer roten Weste steht er da, die Worte „Laib und Seele“ sind darauf gestickt. So heißen in Berlin die 46 Ausgabestellen der Tafel, die zusammen mit den Kirchen betrieben werden.

Eine „Häufung von Problemen“

Jaenke beruhigt die aufgebrachte Frau, erklärt das neue System. Wegen des Andrangs hat die Erlöserkirche ihr System verfeinert. Es gibt vier Farben, vier Gruppen, vier Zeitfenster von jeweils 20 Minuten. Gelb, Rot, Grün, Blau. Helena hat eine gelbe Karte und darf nun ganz nach vorne, alles löst sich in Wohlgefallen auf. Jaenke zeigt die laminierten Karten, die sie hier allen ausgeben, die eine Berechtigung nachweisen können. Darauf stehen der Name und die Größe der Familie, wie viele Erwachsene, wie viele Kinder. Berechtigt sind alle, die Sozialhilfe, Hartz IV oder Grundsicherung beziehen. Und seit Beginn des russischen Überfalls alle, die einen ukrainischen Pass vorweisen.

Der Geschäftsführer der niedersächsischen Landesarmutskonferenz, Klaus Dieter Gleitze, spricht davon, dass Menschen mit wenig Geld in den Schlangen vor den Tafeln „mit den Flüchtlingen aus der Ukraine konkurrieren“. Sie seien durch die Inflation bei Energie- und Lebensmittelpreisen „zurzeit mit einer Häufung von Problemen konfrontiert, wie es in der deutschen Nachkriegszeit einmalig ist“.

Das bringt die Frage mit sich: Zeigen sich an den Ausgabestellen bereits die Verteilungskämpfe einer kommenden Zeit?

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In einem Ambiente, das von der Tafelschlange in Moabit denkbar weit entfernt ist, macht sich CDU-Chef Friedrich Merz seine Gedanken. Er spricht im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf in einem BMW-Autohaus in Norderstedt bei Hamburg. Hinter den Sitzreihen stehen edle Cabrios und Elektroboliden zum Verkauf, vorne deutet Merz das Ende der Konsumrepublik an. „Zeitenwende, das bedeutet neue Prioritäten. Zusätzlicher Konsum kann keine Priorität sein. Wenn es so bleibt, wie es ist, haben wir verdammt viel erreicht.“

Was aber ist mit jenen, die bereits seit Jahren nicht mehr am Wohlstand teilhaben, für die das „so bleibt, wie es ist“ ein Leben mit existenziellen Problemen bedeutet? „Den sozial Schwachen werden wir helfen müssen“, sagt Merz im Autohaus. Auch den Tafeln solle geholfen werden, damit diese „ihre wichtige Arbeit leisten können“.

Doch die Tafeln verstehen ihre Arbeit eben nicht darin, Bedürftigen ihren kompletten Essensbedarf zu schenken. Seit Sabine Werth vor 19 Jahren in Berlin die erste Tafel gründete, steht das Retten von Lebensmitteln im Vordergrund. Es geht darum, so viel wie möglich fair zu verteilen. Zukaufen, um mehr anbieten zu können, ist nicht Teil des Konzepts. Private Geldspenden, um die die Tafeln jetzt werben, werden für die gestiegenen Dieselkosten der Transporterflotten verwendet.

Einzelne Tafeln haben Aufnahmestopp verkündet

Die Tafeln wollen den Sozialstaat nicht aus der Pflicht nehmen – und sie lassen sich auch nicht durch staatliche Zuschüsse verpflichten, wie der CDU-Chef sie jetzt vorschlägt. „Ich finde es nach wie vor sehr gut, dass wir Tafeln unabhängig von öffentlichen Geldern sind“, sagt Werth, „dadurch haben wir die Möglichkeit, an irgendeiner Stelle zu sagen: Wir können nicht mehr, wir müssen jetzt mal eine Pause einlegen.“

Könnte das auch bedeuten, dass die Türen für Neuankömmlinge erst einmal geschlossen bleiben? Einzelne Tafeln haben bereits einen Aufnahmestopp verkündet. „Vielleicht müssen wir so etwas einführen, wenn ständig neue Leute kommen“, sagt auch Rolf Jaenke in Moabit.

Rund 50 Familien aus der Ukraine haben Jaenke und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Moabit seit Kriegsausbruch neu aufgenommen. Das sei an allen der 46 Ausgabestellen in Berlin ähnlich, sagt Sabine Werth, Vorsitzende der Berliner Tafel e. V.: „Es gibt viele Ausgabestellen, in denen 50 bis 100 Haushalte dazugekommen sind. Also Erwachsene mit Kindern, das bedeutet zwischen 100 und 500 Personen, die mehr unterstützt werden müssen. Die Zahl derer, die um Lebensmittel bitten, ist natürlich sehr viel größer. Dazu kommt noch, dass die hohe Inflation, die Preissteigerung und zum Teil auch die Hamsterkäufe dazu geführt haben, dass der Andrang bei den Ausgabestellen größer ist, als er unter normalen Umständen wäre.“

Was für Berlin gilt, gilt auch bundesweit. „Das sind Herausforderungen, die wir so noch nie hatten“, sagt der Vorsitzende von Tafel Deutschland, Jochen Brühl. Der Krieg, die Teuerung, die Hamsterkäufe – all das stellt Gewissheiten auf den Prüfstand. Noch überwiegt die fast grenzenlose Solidarität mit den Familien, die aus ihrem Alltag in Charkiw, Chernihiv oder Odessa gerissen wurden und nun festhängen zwischen Hoffnung auf schnelle Rückkehr und Ankommen in Deutschland.

Sorge vor der Neiddebatte

Sehr schnell und großzügig im Vergleich zu früheren Fluchtbewegungen hat die Bundesregierung für Klarheit gesorgt: Geflüchtete aus der Ukraine bekommen sofort Zugang zu Sozialsystem und Arbeitsmarkt. Kritik kam noch nicht einmal von Rechtsaußen. Doch der Migrationsforscher Rainer Bauböck befürchtet ein Umschlagen der Hilfsbereitschaft in eine „Neiddebatte“.

Verteilungskämpfe in der Tafelschlange könnten solch eine Debatte auf ähnliche Weise befördern wie Anfang 2018. Da setzte der Essener Tafelchef Jörg Sator einen Aufnahmestopp für Ausländer an seiner Ausgabestelle durch. Senioren hatten sich über das Verhalten vor allem junger männlicher Zuwanderer bei der Ausgabe beschwert.

„Wir machen uns natürlich die ganze Zeit darüber Gedanken, ob wir irgendwann mal einen Aufnahmestopp verhängen müssen“, sagt Sabine Werth. Die Tafeln befinden sich in einem Dilemma: „Wir wollen auf keinen Fall, dass die Bestandskunden oder die Berliner potenzielle Kundschaft das Gefühl bekommen, wegen der Flüchtlinge kriegen sie jetzt nichts mehr oder werden nicht mehr angenommen. Wir wollen aber auf der anderen Seite den Flüchtlingen nicht noch zusätzlich ein Trauma verpassen.“ Klar sei: „Wenn es einen Aufnahmestopp gibt, dann für alle gleichermaßen und nicht gegen einzelne Gruppen.“ Auf keinen Fall soll es wieder so zugehen wie 2018 in Essen.

Zunächst aber geht es unter Hochdruck weiter. In Moabit sortieren Jaenke und ein Dutzend weitere Freiwillige die gespendeten Lebensmittel in einem Nebenraum der wuchtigen Backsteinkirche. Es ist ein guter Tag. „Wir haben genug Brot bekommen, gute, frische Ware, das hatten wir schon lange nicht mehr“, bilanziert Jaenke. „Und auch mit Obst und Gemüse sieht es gut aus.“ Orangen, Mandarinen und rote Paprika gibt es fast im Überfluss, davon gleich etwas mehr in jede Tüte. Seit Beginn der Corona-Pandemie reichen sie fertig gepackte Papiertüten an der Kirchentür aus, je nach Familiengröße gibt es eine oder mehrere. Milch- und Fleisch können sich die Kunden an einem Nebentisch extra abholen.

Die vegane Schokolade, die vor ein paar Wochen kam, lagerte verschlossen im Schrank und wurde zu Ostern verteilt. Die Osterhasen und Schokoeier trudeln mit Verspätung ein. Seine Stammkunden kennen das Spiel und seine Regeln. Die Ukrainerinnen und Ukrainer kennen es noch nicht. Sie haben die Adresse auf Infozetteln oder in Chatgruppen bekommen, oft ohne eine Erklärung, was eine Tafel ist. „ Viele haben eine völlig falsche Vorstellung davon, was Tafel eigentlich bedeutet“, sagt Sabine Werth. „Viele denken, wir würden Läden betreiben, die preiswert ein ganzes Sortiment an Lebensmitteln anbieten. Einige Flüchtlinge sind dann auch enttäuscht, und kommen dann nur einmal oder höchstens zweimal.“

Sie machen weiter, während es eigentlich zu viel ist

Die Tafeln als Blitzableiter eines unzureichenden Sozialsystems – Sabine Werth, Rolf Jaenke und Tausende Mitstreitende kennen das Spiel seit vielen Jahren. Sie reagieren so, wie sie immer reagiert haben, wenn es eng wurde: Mit noch mehr ehrenamtlicher Arbeit, noch mehr Selbstausbeutung – und noch mehr lokaler Organisation. Sie machen weiter, während es eigentlich zu viel ist. Seit zwölf Jahren ist Rolf Jaenke in Moabit dabei, seine Frau noch länger. Sie sind fest mit der Gemeinde verbunden. Sie haben nach 2015 weiter gemacht, als die Geflüchteten über die Balkanroute zu den Tafeln drängten. Viele der arabischen Familien von damals kommen bis heute.

Und natürlich machen die Jaenkes auch jetzt weiter. Bitten um Geduld, dirigieren Schlangen, geben Karten aus, während sich zwischen Alltag und Politik neue Forderungen und Kämpfe abspielen.

Aktuell schlagen Seniorinnen und Senioren Alarm, die einen wachsenden Teil der Tafelkundschaft stellen. Die Seniorenverbände der Gewerkschaften fordern Entlastungen auch für Rentnerinnen und Rentner sowie Pensionäre. Die geplante Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro dürfe nicht nur an Erwerbstätige gezahlt werden, sagt Klaus Beck, Bundesseniorenbeauftragter des DGB: „Bei den geplanten Entlastungspaketen ist ein Viertel der Bevölkerung einfach hinten runtergekippt worden.“

Nicht jeder Konflikt der nächsten Zeit wird sich wie vor der Erlöserkirche in Moabit mit Rolf Jaenkes ruhiger Art und vierfarbigen Berechtigungskarten lösen lassen.

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