Ukraine-KriegGewöhnen wir uns an die Bedrohung eines Nuklearschlags?

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Sarmat Rakete rus Rakete

Eine russische Interkontinentalrakete beim Start. Das Foto wurde vom russischen Verteidigungsministerium veröffentlicht.

Berlin/Moskau – Was tun, wenn der Atomkrieg droht? Da gibt es leider kein Patentrezept. Anfang der Fünfzigerjahre zum Beispiel übten Lehrerinnen und Lehrer in den USA mit ihren Klassen „Duck and Cover with Bert the Turtle“. Kurz zuvor erst hatte die Sowjetunion die Welt mit Atombombentests schockiert. Nun sollten die Schülerinnen und Schüler genau wie Bert die Schildkröte im eigens erstellten Lehrfilm die Köpfe einziehen und sich unter ihre Bänke verdrücken. Eben noch spielen die Kinder ausgelassen, schon gehen sie beflissen in Deckung. Die Bombe wird hier nicht mehr gefürchtet als ein Hausbrand.

In der Bundesrepublik warfen sich Generationen von kriegsdienstleistenden Bundeswehrsoldaten beim Ruf „ABC-Alarm“ ihre Ponchos über und schwitzten, bis die lästige Übung zu Ende war. Angst verbreitete eher die zivile Nutzung der Atomkraft: Nach dem Atomunfall von Tschernobyl 1986 griffen junge Eltern ihre Kinder und flüchteten in die Bretagne.

Alle Maßnahmen gegen Atomwaffen wirken hilflos

Als Wladimir Putin kurz nach dem Überfall auf die Ukraine ankündigte, die Atomstreitkräfte Russlands in Alarmbereitschaft zu versetzen, rannten Menschen hierzulande in die Apotheken. Sie hamsterten Jodtabletten, bis die Regale leer waren. Mit den Pillen woll(t)en sie ihre Schilddrüsen vor der Einlagerung von radioaktiven Elementen schützen.

Eines verbindet all diese Maßnahmen: Sie wirken hilflos bis verzweifelt. Es ist wohl doch besser, einen Atomkrieg unter allen Umständen zu vermeiden.

Im Kalten Krieg gelang das den Supermächten USA und Sowjetunion mit Mühe. Das viel zitierte Gleichgewicht des Schreckens geriet allen Drohgebärden zum Trotz nicht aus der Balance. Den Kontrahenten war klar, dass am Ende die Vernichtung stehen würde. Albtraumhaft hatten sich die Bilder der Atombombenabwürfe 1945 über Hiroshima and Nagasaki eingebrannt. Aber das ist lange her.

Damals half auch eine gehörige Portion Glück, das Schlimmste zu vermeiden. Immer wieder mal spielten Computer verrückt, Wolkenformationen wurden als angreifende Flugzeuge missinterpretiert, Trainingsprogramme für Atomangriffe liefen auf scharfen Verteidigungssystemen. Die Welt war nur Minuten vom Untergang entfernt.

Die Eskalation vermeiden

Aber auch Vernunft und Überlebenswille spielten eine entscheidende Rolle: 1962 installierte die Sowjetunion atomare Mittelstreckenraketen auf Kuba. Die USA hatten ihrerseits ähnliche Raketen in der Türkei in Stellung gebracht. Die US-Regierung verhängte eine Seeblockade, die UdSSR schickte atombombenbewehrte U-Boote los. Bei allem militärischen Muskelspiel gelang es John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, eine Eskalation zu vermeiden. Sie vertrauten nicht blind den Ratschlägen kriegslüsterner Berater. Am Ende einer nervenaufreibenden Konfrontation wurden die Raketen auf Kuba und später die in der Türkei abgezogen.

Heute jedoch scheint eine gewisser Gewöhnung an die Atombombe um sich zu greifen. Jedenfalls ist eine gewisse verbale Lässigkeit im Umgang mit ihr kaum zu überhören. Gern verwenden Militärfachleute die euphemistischen Bezeichnungen „atomares Säbelrasseln“ oder „atomarer Waffengang“. Es klingt, als ließe sich ein Atomkrieg im fairen Duell zwischen Gentlemen organisieren. Die Folgen eines Atomschlags auf Kiew werden durchgerechnet, als habe man es mit einem Computerspiel zu tun, bei dem später nur der Reset-Knopf gedrückt werden müsste.

Robert Kelley vom Institut für Friedensforschung in Stockholm, beobachtete schon vor einigen Jahren: „Ich habe Vorlesungen vor jungen Leuten vor allem in Russland gehalten, an Orten, wo sie Atomwaffen herstellen. Es hat mich verstört, dass für die jungen Leute Atomwaffen nichts anderes mehr sind als größere Feuerwerkskörper. Ich rede mit jungen Wissenschaftlern und Spezialisten für internationale Beziehungen, und sie erscheinen mir nach den Standards meiner Generation etwas naiv.“

Manche Fachleute rufen inzwischen dazu auf, Kenntnisse über die mörderischen Folgen eines Atomkriegs wieder gezielt zu verbreiten. Im Kalten Krieg wussten viele von Hitze- und Feuersturm, von Druckwelle, radioaktiver Strahlung, die Menschen noch Jahre später an Krebs sterben lässt, und von der Asche in der Atmosphäre, die eine Klimaveränderung nach sich ziehen kann. „Wir müssen die Effekte von Kernwaffenexplosionen wieder stärker in die öffentliche Diskussion rücken“, hat der Aachener Atomwaffenexperte Malte Göttsche jüngst dem „Spiegel“ gesagt.

Die Erzählung von „Mini-Nukes“

Schon lange arbeiten Militärs daran, einen Atomkrieg einzuhegen. Immer kleiner werden die Sprengköpfe, immer genauer sollen sie ihre Ziele erreichen. Von „chirurgischen Nuklearschlägen“ ist die Rede oder – als handele es sich um Spielzeug – von „Mini-Nukes“.

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Ein militärischer Schlagabtausch unter der Schwelle der absoluten Vernichtung soll kurioserweise die Chance auf Frieden erhöhen – und das, obwohl die Zahl der Atommächte wächst. Auch Nordkorea und der Iran tüfteln an immer tödlicheren Waffen. Russland verfügt über das weltgrößte Atomwaffenarsenal.

Und wer nicht daran glaubt, dass sich Atomkriege beherrschen lassen? Vor wenigen Tagen sprang der Philosoph Jürgen Habermas dem in die Bedrängnis geratenen Bundeskanzler Olaf Scholz zur Seite, der sich zu diesem Zeitpunkt noch gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine sträubte.

Habermas: „Kein Spielraum für riskantes Pokern“

Der 92-jährige Habermas verwies in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf, dass die Bundesrepublik vor dem Hintergrund des atomaren Drohpotenzials Russlands nicht Kriegspartei werden dürfe. Das Risiko eines Weltenbrandes lasse „keinen Spielraum für riskantes Pokern“, auch wenn das Dilemma sei, dass zugleich alles dafür getan werden müsse, damit die Ukraine den Krieg nicht verliere.

Dennoch gilt für Habermas die Prämisse: Ein Krieg mit Atomwaffen sei „nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne“ zu gewinnen. Er stellte sich damit auch gegen Jüngere, die die „neue Realität des Krieges“ aus ihren „pazifistischen Illusionen“ herausgeholt habe. Manche Replik auf Habermas“ abwägenden Beitrag klang, als schreibe hier ein seniler Alter und kein hervorragender Denker.

Das heißt nicht, dass nicht auch bei Jüngeren die Besorgnis wachse, wie der umstrittene offene Brief von 28 Prominenten an Kanzler Scholz zeigt. Auch die Erstunterzeichner des Schreibens, darunter der Wissenschaftsjournalist Ranga Yo ge shwar, die Schriftstellerin Juli Zeh oder der Schauspieler Lars Eidinger, fürchten eine mögliche nukleare Ausweitung des Konflikts.

Und doch werden die Atomdrohungen Putins vermehrt als bloße Panikmache abgetan. Aber vielleicht ist ein bisschen Panik ja gar nicht schlecht bei einem Machthaber, dem der deutsche Vizekanzler Robert Habeck attestiert, dass er „nicht mehr wirklichkeitsbezogen und in dem Sinn rational“ handele. Und wie schätzt Putin selbst sein Atomwaffenarsenal ein? US-Regisseur Oliver Stone („JFK“) führte zwischen 2015 und 2017 lange Interviews mit ihm. Eine Sequenz daraus sticht hervor, in der Stone seinem Gesprächspartner Stanley Kubricks Kinofilm „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ vorspielt. Am Ende des Films über paranoide Militärs und hilflose Staatenlenker wird die Vernichtung der menschlichen Zivilisation durch Atombomben in ausgesuchter Schönheit zelebriert.

Hinterher lässt sich Putin zu einer historischen Einordnung des Films von 1964 hinreißen: „Die Sache ist die, dass sich seitdem wenig geändert hat. Die modernen Waffensysteme sind nur noch ausgefeilter und komplexer geworden. Aber das Konzept solcher Vergeltungswaffen und die Unmöglichkeit, solche Waffen unter Kontrolle zu haben, gibt es bis heute. Es ist nur noch schwieriger und gefährlicher geworden.“

Heute hätte ein solches Gespräch gar nicht mehr gedreht werden können: Da verschanzt sich Putin hinter grotesk langen Tischen und droht der Welt mit dem Atomkrieg.

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