Bilanz eines außergewöhnlichen TurniersDas Ende der WM in Katar – wie schlimm war es und was bleibt?

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Fans aus Mexiko stehen vor dem Spiel mit einer Flagge auf der Tribüne.

Fans aus Mexiko stehen vor dem Spiel um Platz drei mit einer Flagge auf der Tribüne.

Noch ein Spiel, dann ist die umstrittenste Fußball-WM aller Zeiten vorbei. Laut Fifa war sie die beste, aus deutscher Perspektive eine der schlimmsten. Was bleibt von der WM im Wüstenstaat?

Wenn die deutsche Nationalelf nach diesem Turnier eines nicht gebrauchen kann, dann ist es eine TV-Dokumentation über ihr Versagen. Ein Kamerateam hinter den Kulissen, das die enttäuschten Spielergesichter nach dem Vorrunden-K.-o. filmt, einen angefressenen Hansi Flick in der Kabine.

Genau solche Szenen wird es aber höchstwahrscheinlich geben. Vor dem Turnier schloss der DFB einen Vertrag mit Amazon für eine mehrteilige Dokuserie über die Zeit in Katar. Damals hielt man es für eine gute Idee, „dass wir alle hautnah dran lassen“, wie Flick das Projekt kommentierte. Die Serie „verfolgt uns bei unserem Ziel zurück an die Weltspitze“. Es kam bekanntlich anders.

Die Kooperation wirkt wie ein letzter verunglückter PR-Stunt des für Marketing zuständigen Ex-DFB-Managers Oliver Bierhoff. Das vielleicht peinlichste Turnier der Deutschen, live on tape. Wer will sich das ernsthaft noch einmal anschauen?

Der Film, der im Frühjahr ausgestrahlt werden soll, passt zu dieser aus deutscher Sicht völlig verkorksten WM. Es sollte ein Neuaufbruch werden, das erste Weltturnier unter Flick. Stattdessen schied man früh aus, führte Debatten um Kapitänsbinden und Doppelmoral, um zu spät eingewechselte Vollblutstürmer. Während die Deutschen vor dem Endspiel in einer tiefen Sinnkrise stecken, verfolgt der Rest der Fußballfans gespannt, ob Messi am Sonntag endlich diesen Pokal holt.

Infantino lobt sich selbst

Die Frage, die im Nachgang noch häufig gestellt werden wird: War es wirklich die „beste WM aller Zeiten“, wie Fifa-Boss Gianni Infantino bei seinem finalen Presseauftritt noch einmal großspurig betonte? Natürlich nicht.

War es zumindest trotz der Umstände eine gute WM? Hat die Welt eine Party gefeiert, und die Deutschen standen mit verschränkten Armen am Rand? Oder war alles so schlimm oder gar noch schlimmer, als man im Vorfeld befürchten musste?

Wer dieses Turnier in Katar, oder besser gesagt in Doha, also in einer einzigen Stadt, erlebt hat, wird sicher einige Dinge vermissen – das Wetter zum Beispiel. Temperaturen im Dezember um die 30 Grad, ohne besonders hohe Luftfeuchtigkeit. Kein Regen, nicht mal eine Wolke am Himmel. Manche Dinge dagegen weniger – wie die Klimaanlagen, deren omnipräsentes Surren einen sogar in den Schlaf begleitete. Warum muss man bei durchgehend angenehmen Temperaturen eigentlich zwingend alles herunterkühlen? Stadien, Metros, Hotelzimmer.

200 WM-Flüge am Tag

Es ist eine dieser unzähligen skurrilen Gegebenheiten in dieser irren, anderen Welt, die man als Europäer nicht verstehen will, vielleicht auch gar nicht verstehen kann. In Zeiten, in denen man über Nachhaltigkeit spricht, ist in Katar ohnehin nicht nur vieles eine Spur drüber – es sind Hunderte Spuren.

Nahezu 200 Flieger ballerten jeden Tag nach Doha, alleine aus Dubai. Weil sich viele Fußballfans die völlig überteuerten Hotels vor Ort nicht leisten konnten oder wollten, jetteten sie zu den Spielen hin und her. Vom modernsten Flughafen der Welt ging es mit der modernsten Metro der Welt in die modernsten Stadien der Welt. Als Journalist arbeitete man im – natürlich – größten und modernsten Medienzentrum der Welt, wo sich an manchen Tagen bis zu 13000 Medienschaffende tummelten. Es gab dort einen Friseur, ein Fitnessstudio, sogar eine Wäscherei.

Und übrigens ebenfalls Alkohol auf der opulenten Terrasse, auf der die Spiele übertragen wurden. Ein Novum, und das ausgerechnet in Katar. Oder: logischerweise in Katar? Denn den Journalistinnen und Journalisten sollte es an nichts fehlen, sie sollten sich wohlfühlen. Und sie sollten ganz nebenbei möglichst positiv berichten. Gab es überhaupt Negatives? Die Antwort liegt wie immer im Auge des Betrachters.

Wie Katar von der WM profitiert hat

Für die Gastgeber haben sich die Investitionen von mehr als 200 Milliarden Dollar offenbar gelohnt. Sie haben gezeigt, dass ihr Land, kleiner als Hessen, ein Riesenevent wie die WM ausrichten kann. Ihre Nationalelf schied zwar sang- und klanglos aus, aber dafür gelang der saudischen Mannschaft mit dem Auftaktsieg gegen Argentinien ein Meilenstein in der arabischen Fußballgeschichte. Und dann war da noch Marokko, das Märchen, das jedes Turnier braucht: das erste afrikanische und zugleich ein muslimisch geprägtes Land im Halbfinale einer WM. Mit Lionel Messi und Kylian Mbappé stehen zudem die größten Stars des von Katar gepäppelten französischen Meisters Paris Saint-Germain im Finale.

Im Gegensatz zum Vorfeld der WM, als weltweit über die in Katar gestorbenen Bauarbeiter gesprochen wurde, war das Thema während des Turniers weniger stark präsent. Zwar gab das WM-Organisationskomitee entgegen allen vorherigen Behauptungen zu, dass „400 bis 500 Arbeiter“ im Zuge der Baumaßnahmen für das Turnier ihr Leben verloren.

Als jüngst ein Arbeitsmigrant während des Turniers starb, bedauerte der katarische Turnierchef dessen Tod. Sagte aber auch: „Wir haben eine erfolgreiche WM und das ist etwas, worüber Sie jetzt gerade sprechen wollen?“ Der Tod sei „ein natürlicher Teil des Lebens – sei es bei der Arbeit oder im Schlaf“. Aber das war zwischen den Viertelfinals und alle schauten schnell wieder auf die Fußballplätze.

Wie geht es nach dem Turnier in Katar weiter?

Die Strategie der Katarer scheint aufgegangen zu: Das Sportliche überstrahlte zusehends die vielen Schattenseiten des Emirats. Vielleicht konnte Katar aber auch nur gewinnen, so mies war ihr Image im Vorfeld. Nun reden viele Besucher davon, wie freundlich die Gastgeber doch seien.

So mag es tatsächlich Menschen geben, die auf Prunk und Protz, auf eine Plastikwelt stehen, in der Geld alles bestimmt – und ganz nebenbei überhaupt keine Rolle spielt. Doch ob sie sich auch fragen, was sein wird, wenn die Millionen Fans aus aller Welt wieder abgereist sind? Ob die Fifa und die nationalen Fußballverbände dann auch noch in die Wüste schauen, um nachzuhalten, ob sich die Menschenrechtslage oder die Arbeitsbedingungen für die Migranten verbessern? Was aus den riesigen Arenen wird, die für zig Milliarden in die Landschaft gezimmert wurden? 

Vielleicht haben sie sich trotz all des Luxus gewundert oder sogar darüber aufgeregt, dass man im Stadion kein Regenbogenshirt tragen durfte. Dafür gab es jeden Abend ein Feuerwerk, wie es wohl selbst an Silvester nur wenige Orte der Welt toppen können – dazu ein finalwürdiges Rahmenprogramm vor jedem noch so bedeutungslosen Gruppenspiel. Ein überdimensionaler WM-Pokal auf dem Rasen, ultralaute Bumm-Bumm-Musik an, Licht aus. Und los geht die große Fifa-Infantino-Show unter dem Motto: „Menschenrechte, die schönste Nebensache der Welt.“ Da störten politische Diskussionen oder „Protestaktionen“ nur. Und die Deutschen sowieso.

Die Welt feiert, Deutschland guckt zu

Keine Mannschaft wurde mit so viel Häme aus dem Turnier, aus dem Land verabschiedet. Selbst im TV machten sich die Scheichs über das Vorrundenaus des einstigen Fußballriesen lustig. Und das DFB-Team bekam sogar noch eine Ohrfeige von Trainerlegende Arsené Wenger (heute für die Fifa tätig) obendrauf. Der Franzose sagte: „Die Mannschaften, die mental bereit waren, sich auf den Wettbewerb zu konzentrieren und nicht auf die politischen Demonstrationen, haben gut gespielt.“

Übersetzt: Deutschland schied auch deshalb aus, weil man sich in Debatten um die „One Love“-Binde und die Mund-zu-Geste verrannte, statt sich auf den Sport zu konzentrieren. Eine steile These. Fakt dagegen ist, dass diese Diskussionen von Mexiko bis Australien, von Kanada bis Brasilien niemanden interessierten. Stattdessen Jubelbilder aus Marrakesch, aus Paris, aus dem warmen Buenos Aires, wo gerade auch rein meteorologisch Zeit für ein Sommermärchen ist. Die Fifa verkündete nach der Vorrunde TV-Rekorde auf der ganzen Welt. Ganz im Gegensatz zu Deutschland.

Die hiesigen TV-Quoten waren für eine WM teils verheerend. Kaum einer mochte offen zugeben, dass er zuschaut. Wie verkrampft der Umgang mit dem Turnier hierzulande war, zeigte eine Aussage der Vorsitzenden des deutschen Ethikrats, Alena Buyx. Gegenüber „NDR Info“ sagte sie: „Meine Söhne werden sich ausgewählte WM-Spiele anschauen. Und wir haben entschieden, wir machen dann immer eine Spende für jedes Spiel. Für welche Menschenrechtsorganisation bestimmen sie.“

Die deutsche Verzagtheit

WM-Schauen im Stile eines Ablasshandels. So versuchte jeder, wenn er denn schaute, das Turnier mit seinem Gewissen zu vereinbaren. Doch von Anfang an war das Problem: Die Boykottwünsche kamen immer nur von einer Seite, von der Öffentlichkeit, nicht von den Spielern.

Immerhin versuchten Kapitän Manuel Neuer & Co. ein Zeichen zu setzen, wurden dabei aber auch vom schlecht vorbereiteten DFB im Stich gelassen. Die Rolle der Fifa, die die „One Love“-Binde in letzter Sekunde verbot und mit „unlimitierten Sanktionen“ drohte, steht dabei noch mal auf einem ganz anderen Blatt. Doch der DFB handelte inkonsequent, indem er erst ankündigte, standhaft bleiben zu wollen, und dann doch zurückzog.

Und seitdem Wirtschaftsminister Robert Habeck am Golf erst Gaslieferungen erbat, dann die Katarer unverhohlen kritisierte, gilt die Bundesrepublik als Weltmeister der Doppelmoral. Die Debatte um Menschenrechte steht dabei auch für einen ideologischen Kampf: Die islamische Welt, stellvertretend Katar, verwahrte sich gegen die Ratschläge des Westens, stellvertretend Deutschland.

Dabei fragt man sich manchmal, wie es mit der deutschen Boykottstimmung wohl weitergegangen wäre, wenn der Ball der Japaner vor ihrem Siegtreffer doch im Aus gelandet wäre?

Abschied von manchen Mythen

Für die Deutschen war die WM nicht nur ein Abschied vom Turniermannschaftsmythos, sondern auch vom „letzten Lagerfeuer der Nation“, wie es Oliver Bierhoff einmal formulierte. Diese unbeschwerte „Schland“-Zeit wird es so bald nicht mehr geben. Denn durch die Vergabe der WM nach Katar hat der Fußball auch sein letztes Fünkchen Glaubwürdigkeit verloren – so schön und unterhaltsam die Spiele auch waren. Gleichzeitig war der Fußball politisch wie selten zuvor.

Auf den Tribünen zeigten arabische Fans palästinensische Flaggen, serbische Fans stimmten anti-albanische Sprechchöre an, die iranische Mannschaft verstummte bei der Nationalhymne. Und es könnte so aufgeladen weitergehen, wenn die nächste WM in einem Land stattfindet, in dem ein gewisser Donald Trump abermals Präsident werden will. Für die Austragung 2030 laufen sich Saudi-Arabien und China warm. Joshua Kimmich wäre dann 35. Wie wird er auf das Turnier in Katar blicken? Wird er nun, wie direkt nach dem WM-Aus von ihm befürchtet, in ein „Loch“ fallen?

Antworten könnte die angekündigte Katar-Doku über das Nationalteam liefern. Die sechsteilige (!) Serie komme trotz WM-Aus, bekräftigte Amazon jüngst. Vertrag ist Vertrag. Die DFB-Episoden werden dann Teil einer Reihe sein, in der bereits andere Fußballteams begleitet wurden. Der Titel lautet: „All or Nothing“ – alles oder nichts. Er könnte nicht treffender sein.

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