Was früher drei oder vier Minuten Nachspielzeit waren, sind bei der WM in Katar zwischen acht und 14. Die Verlängerungen sind von der Fifa erwünscht - ausnahmsweise nicht aufgrund von Größenwahn oder Machthunger.
WM-Kolumne „Wir schauen hin“Der Ball ist rund und das Spiel dauert 114 Minuten


In der ersten Halbzeit des Spiels England gegen Iran gab es 14 Minuten Nachspielzeit.
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Es gibt viele grundlegende Fußballweisheiten, die der deutschen Bundestrainer-Ikone Sepp Herberger zugeschrieben werden. „Der Ball ist rund und das Spiel dauert 90 Minuten“ ist eine davon. Doch zumindest scheint der zweite Teil des Gebots seine Gültigkeit bei der WM in Katar verloren zu haben – wie auch diverse andere Grundsätze des Sports. Nur hat das nach aktuellem Wissensstand nichts mit Geldgier, Größenwahn oder Machthunger irgendwelcher Funktionärs-Despoten zu tun. Viel mehr sind die in bislang allen WM-Partien ausufernden Nachspielzeiten mit einer durchaus sinnvollen Regelanpassung zu begründen.
„Wir werden die Nachspielzeit sehr sorgfältig kalkulieren und versuchen, die Zeit auszugleichen, die durch Zwischenfälle verloren geht“, hatte Fifa-Schiedsrichterchef Pierluigi Collina angekündigt. „Wir wollen nicht, dass es in einer Halbzeit nur 42 oder 43 Minuten aktives Spiel gibt.“ So solle die Zeit, die durch Torjubel, Verletzungen, VAR-Einsatz oder Platzverweise verloren gehe, in jedem Fall nachgespielt werde. „Sieben, acht, neun Minuten“, seien durchaus zu erwarten.
Irans Taremi trifft in der 103. Minute
Beim 6:2 der Engländer gegen den Iran waren es sogar 14 Minuten in der ersten und zehn in zweiten Hälfte. Statt Herbergers 90 lief das Spiel brutto also 114 Minuten – und das 2:6 von Irans Taremi (90.+13) war das späteste Tor einer WM in regulärer Spielzeit, das seit Start der detaillierten Datenaufzeichnung 1966 gemessen wurde. Das 2:0 des Niederländers Klaassen (90.+9) gegen den Senegal nur eine Begegnung später war der zweitspäteste Treffer der WM-Historie. Gut möglich, dass diese Bestmarken im Verlauf des Turniers noch pulverisiert werden.
Für Teams und Zuschauer erfordern die längeren Nachspielzeiten ein Umdenken: Die taktische Ultima Ratio eines Trainers dürfte in der Gewissheit, dass es nun sechs statt der bislang erwartbaren drei Minuten Nachspielzeit gibt, erst später zum Einsatz kommen.
Und der Fernsehzuschauer, der sich nach dem 17-Uhr-Spiel im Kopf nach bisherigen Maßstäben den 19-Uhr-Abendessen-Termin bei Oma zurechtgelegt hatte (ca. 95 Spielminuten + 15 Minuten Halbzeit = 18.50 Uhr Abpfiff), wird noch einmal neu rechnen müssen.
Collina hofft auf eine Netto-Spielzeit von 60 Minuten
Sinnlos macht dies die Nachschärfungen seitens der Schiedsrichter jedoch nicht. Erst im Sommer hatte eine Analyse der „Marca“ ergeben, dass in Europas Topligen der Ball pro Partie im Schnitt nur 52 Minuten in Bewegung ist.
Collina hofft durch die neuen Maßnahmen auf 60 Minuten Netto-Spielzeit in Katar. In beiden Betrachtungsweisen ist es also ein weiter Weg zu Herbergers 90.