Das Eröffnungsspiel lieferte skurrile Szenen abseits des Platzes: Zu bestaunen war eine Massenflucht von der laut Fifa-Chef Infantino „besten WM aller Zeiten“.
WM-Kolumne „Wir schauen hin“Bravo! Stadionflucht während „bester WM aller Zeiten“


Das Al-Bayt-Stadion leert sich während des Eröffnungsspiels.
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In der Geschichte der bisher 21 Fußball-Weltmeisterschaften war es so, dass tatsächlich auch in der zweiten Halbzeit das eine oder andere Tor zu bestaunen war. Vielleicht muss man das den Menschen in Katar einfach mal mitteilen. Am besten mit einer Stadiondurchsage im nächsten Match des Gastgeberteams des 22. WM-Turniers am Freitag gegen den Senegal.
Erzählen könnte man ihnen auch dies: Es gibt auch Zuschauer von Fußballnationen wie Brasilien, die bleiben auch dann noch im Stadion, wenn das Ergebnis zur Halbzeit 0:5 in einem Halbfinale im eigenen Land lautet. Und die das eigene Törchen zum 1:7-Endstand gegen Deutschland kurz vor Schluss ekstatisch laut feiern. Einfach deshalb, weil auch eine zweite Hälfte zu einem ganzen Fußballspiel gehört.
Am Sonntagabend nun aber bekamen wir eine Stadionflucht von weiß gewandeten Männern schon mit Beginn der 46. Minute zu sehen, eine Aktion, die in einen bisher bei WM-Spielen unbekannten Exodus mündete. Gut, Katar, das Land der Gastgeber lag mit 0:2 zurück, spielte in der ersten Hälfte nervös, der Torwart wirkte deplatziert und es deutete sich eine schöne Packung an. Doch es war ja nicht gesagt, dass es auch so weit kommt.
Um aber zu erfahren, wie es weiter geht, ob die Heimmannschaft vielleicht sogar noch ein Tor schießt, muss man letztlich nur das Einfachste machen: im Stadion bleiben. Egal, schienen sich die Fliehenden zu denken: Fußball, was ist das? Wie geht das? Och nö, ist so langweilig nach den vielen Promis bei der Eröffnungsfeier, also ab nach Hause, raus aus dem teuren Hochglanzstadion und zurück in die Wüste. Die weltweite Verwunderung war groß und natürlich auch die Häme in den sozialen Netzwerken.
Und so ploppen bei dieser Gelegenheit all jene Geschichten vor dem inneren Auge auf, die diesen Ort als WM-unwürdig bezeichneten, nicht nur wegen der kritischen Menschenrechtslage oder der wenig nachhaltigen Klimaanlagen in den Stadien, sondern vor allem wegen des Naheliegendsten: Bei der genuinen Fußballkultur eines Landes, in dem sich bei Erstligaspielen kaum Zuschauer in den Stadien verirren, darf man sich als super WM-Vergabestation Fifa natürlich nicht wundern, wenn am Ende tatsächlich fast nur noch Gästefans aus Ecuador den ersten WM-Auftritt Katars live vor Ort erleben.
Es kommt den Betrachtern dieser unglaublichen Stadionauswanderung allerdings vor allem auch das Diktum des Fifa-Chefs Infantino in den Sinn, jenes mephistophelischen Opportunisten mit der Aura eines Bond-Bösewichts: „Katar ist bereit. Natürlich wird das die beste WM aller Zeiten.“
Es ist interessant, dass diese völlig anmaßende Einschätzung schon den ersten Realitätstest nicht ganz so dolle übersteht. Bravo, WM in Katar, du machst das gerade richtig toll.