30 Jahre MauerfallWie Reiner Calmund die DDR-Stars Thom und Kirsten verpflichtete

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Die Nationalelf der DDR bei einem ihrer letzten Länderspiele.

  • Mit einem abenteuerlichen Plan gelang es dem ehemaligen Leverkusener Manager, die DDR-Top-Fußballer zu verplichten.
  • Über einen Helfer, den er bei einem DDR-Länderspiel einsetzte, beschaffte er sich die Adressen der beiden.
  • Eine Verpflichtung von Matthias Sammer scheiterte an dem Veto von Helmut Kohl.

Leverkusen – Der Traum war an diesem 15. November 1989 zum Greifen nah, das Ziel so dicht vor Augen. Nur noch einen Punkt benötigte die Nationalelf der DDR, um an der Weltmeisterschaft 1990 in Italien teilzunehmen.

Reiner Calmund witter seine Chance

Die Qualifikation war bisher gut gelaufen, in der Auswahl von Nationaltrainer Eduard Geyer standen einige herausragende Spieler: Matthias Sammer, Ulf Kirsten, Andreas Thom, Thomas Doll oder Rico Steinmann, der im Sommer 1991 zum 1. FC Köln wechseln sollte. Das alles entscheidende Qualifikationsspiel in Wien gegen Österreich war die wichtigste Begegnung für die DDR seit dem Spiel gegen die bundesdeutsche Auswahl bei der  WM 1974 im Westen Deutschlands (das die DDR mit 1:0 gewann).

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Andreas Thom als Spieler von Dynamo Ost-Berlin.

Doch der Mauerfall, der gerade einmal sechs Tage zuvor so viele Menschen befreit hatte, lähmte die Spieler. Der späterer Kölner Toni Polster erzielte im Prater-Stadion alle drei Tore zum 3:0-Sieg der Österreicher. Steinmann verschoss einen Elfmeter. Ein Drama.

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Andreas Thom (l.) heute

Viele, nicht nur die DDR-Spieler, waren in diesen Tagen mit ihren Gedanken woanders. Reiner Calmund, der Manager von Bayer 04 Leverkusen, war auch emotional berührt, aber hochkonzentriert und witterte seine Chance – und zwar auf Top-Spieler. Und er nutzte sie. Calmund war schneller als alle anderen, trickreich, vielleicht auch dreist. Er hatte einen Plan – und der ging auf.

Mit Andreas Thom wechselte am 9. Dezember der erste DDR-Spieler zu einem Westklub, zu Calmund nach Leverkusen, kurz darauf folgte auch noch Stürmer Ulf Kirsten. Denn Calmund handelte extrem clever.

DFB-Elf spielt zeitgleich in Müngersdorf

Der Westen Fußball-Deutschlands schaute am Abend des 15. November nur nach Köln. Die Mannschaft von Bundestrainer Franz Beckenbauer musste gewinnen, um das WM-Ticket zu lösen. Vor 60.000 Zuschauern im Müngersdorfer Stadion, darunter auch Reiner Calmund, rang die BRD-Auswahl Gegner Wales nach Rückstand dank der Treffer von Rudi Völler und Thomas Häßler mit 2:1 nieder. Calmund, der damals 40-jährige Macher von Bayer 04, hatte aber vorgesorgt und seine Scouts Manfred Ziegler und Dieter Herzog nach Wien geschickt. So wie andere Bundesligisten ebenfalls. Und einen weiteren Mann: Wolfgang Karnath, offiziell Chemielaborant der Bayer AG, letztlich aber „Mädchen für alles“ in der Fußball-Abteilung.

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Über den sagt Calmund im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ noch heute: „Ohne ihn wäre die ganze Sache so nicht möglich gewesen, er war unser wichtigster Mann. Wenn der vorne aus der Disco rausflog, kletterte der durchs Kellerfenster wieder rein.“ Das tat Karnath im Wiener Praterstadion zwar nicht, aber er musste irgendwie in den Innenraum gelangen, um Kontakt zu den DDR-Stars aufzunehmen. „Denn den gab es vorher nicht. Null. Wir hatten nichts: keine Adressen, keine Telefonnummer. Mein Plan war: Ich wollte mit einem menschlichen U-Boot an die Spieler und ihre Kontaktdaten kommen“, erinnert sich Calmund.

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Ulf Kirsten heute.

Eine irre Idee. Calmund behauptet, er habe seine Kontakte zum Österreichischen Fußballverband spielen lassen und den akkreditierten Karnath mit einem Fotografenleibchen ins Stadion eingeschleust. Karnath, der später als Spielerberater bekannt wurde, erklärte, er sei mittels seines Sanitäterausweises aus Bundeswehrzeiten an den Ordnern vorbeigelangt. Wie dem auch sei: Bewiesen ist, dass es Karnath irgendwie schaffte, zur Auswechselbank der DDR vorzudringen und ab der 79. Minute dort sogar Platz nahm.

Ein menschliches U-Boot

Das „menschliche U-Boot“ war also ins Innerste des DDR-Teams eingetaucht und bekam Oberwasser. Erst sprach der Leverkusener sogleich den ausgewechselten Matthias Sammer an. „Ich war einfach frech und zeigte ihm gleich meinen Arbeitsausweis von Bayer Leverkusen. Ich sagte Sammer, dass er auch bitte zu den anderen Spielern gehen und ihn sagen soll, dass ich sie adäquat beraten werde. Zum Glück bekam Nationaltrainer Eduard Geyer von der ganzen Aktion nichts mit“, erinnert sich Karnath.

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Reiner Calmund, der große Impresario, einst Manager von Bayer 04 Leverkusen

Man verabredete sich auf später für ein Treffen in der Sportschule Lindabrunn, dem Teamquartier des DDR-Teams vor den Toren Wiens. Neben Sammer waren später auch Ulf Kirsten und Andreas Thom bei dem Gespräch mit Karnath an Bar dabei. Calmund erhielt am Ende die exakte Adresse von Thom in Berlin. Das war sehr wichtig, denn an den Klingeln der Plattenbauten standen keine Namen. Auch mit Kirsten und Sammer verabredete sich Karnath zu einem Verhandlungsgespräch.

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Matthias Sammer als Nationalspieler der DDR.

Am nächsten Tag saß Karnath mittags in der „Interflug-Maschine“, die das DDR-Team zurück nach Berlin flog. Es war ein normaler Linienflug.  Calmund flog  von Köln nach Berlin. Der Manager kaufte im KaDeWe eine Schachtel Pralinen, Spielzeug für die Kinder und einen Blumenstrauß für Tina Thom. Beim Gespräch in der Wohnung waren der Spieler und Calmund vorsichtig. „Mir war klar, dass die Wände Ohren hatten“, sagt Calmund. Die Angst, abgehört zu werden, war stets präsent. Thom musste sich wegen des Wechsels noch mit Freunden und Beratern verständigen, dann bekam Calmund sein Okay. Und  reichte einen Tag später ein Anschreiben beim Deutschen Turn- und Sportbund ein.

Thom unterschreibt einen Vorvertrag

„Im Interesse der Spieler war es zudem wichtig, die offiziellen Wege über den Sportverband der DDR zu gehen, was zu diesem Zeitpunkt noch entscheidender war als der Kontakt zu den Vereinen“, erklärt Calmund. Vorbehaltlich einer Freigabe durch den Verband  unterschrieb   Thom   einen Vorvertrag.

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Matthias Sammer im Dress von Dynamo Dresden.

Am 9. Dezember war der Transfer perfekt: Der Deutsche Fußball-Verband (DFV) der DDR erteilte die Freigabe und war sich mit Bayer 04 über die Ablöse einig. „Unter dem Strich haben wir insgesamt 3,2 Millionen D-Mark bezahlt“, sagt Calmund. 2,2 Millionen flossen direkt, eine weitere Million innerhalb der nächsten zwei Jahre. Ein Großteil der Summe ging an Thoms bisherigen Klub BFC Dynamo Berlin, dem von Stasichef Erich Mielke gehätschelten Abo-Meister der DDR, der Rest wanderte in die Kassen des Gesundheitswesens.  Der erste Transfer eines Spielers aus dem Osten in den Westen war somit perfekt.

Plötzlich ein Großverdiener

Bei Bayer 04 konnte Thom  mit einem Salär von rund einer halben Million D-Mark pro Jahr rechnen. In der DDR  zählte er zu den privilegiertesten Menschen, erhielt rund 7000 Ostmark pro Monat, wohnte in einer damals modernen Plattenbauwohnung, fuhr einen Lada-Sport. Aber das, was er dann in Leverkusen verdiente, erschien auch für ihn  wenige Wochen  zuvor  noch vollkommen utopisch.

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Matthias Sammer heute.

Bei Torjäger Ulf Kirsten dauerte es noch über fünf Monate, bis er in die Bundesliga wechselte. Eigentlich stand er bei Borussia Dortmund  im Wort. Doch Calmund trickste vor allem den BVB aus und machte bei Kirsten das Rennen. Bayer 04 zahlte Ende April 1990 für Kirsten noch mehr als für Thom. Wie die 3,7 Millionen Ablöse dann zu Kirstens Klub Dynamo Dresden gelangten, war ebenfalls abenteuerlich: Dynamos Manager Dieter Kießling und sein Fahrer   holten die   eingeschweißten Geldscheine an der Bayer-04-Geschäftsstelle in Leverkusen ab – in  bar. Und dann fuhren sie mit 3,7 Millionen D-Mark im Kofferraum zurück  nach Dresden.

Sammer darf nicht nach Leverkusen wechseln

Eigentlich hätte damals auch der spätere Europameister und Weltklasse-Spieler Matthias Sammer nach Leverkusen wechseln sollen, Sammer hatte bei Bayer 04 sogar schon einen Vertrag unterschrieben. Doch der damalige Kanzler Helmut Kohl schritt ein und verhinderte den Transfer.  Begründung: Drei Topstars aus der DDR nur zu einem Verein, das würde nicht gehen. Zumal dieser Verein auch noch zu einem Weltkonzern gehörte.

Rückblickend sagt Calmund, dass er in seiner  Manager-Laufbahn sehr viele verrückte und spektakuläre Transfers erlebt habe –  „aber emotional waren die mit den deutschen Spielern und Funktionären aus der DDR jedoch nicht zu toppen.“

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