Interview mit Andreas Rettig„Sehnsucht nach Wärme“

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Andreas Rettig posiert am Millerntor-Stadion.

Andreas Rettig posiert am Millerntor-Stadion.

Köln – Nach einem Zwischenstopp bei der DFL kehrt Andreas Rettig auf die Vereinsebene zurück. Im Interview spricht er über seine neue Aufgaben.

Herr Rettig, am Montag spielt der FC St. Pauli zum ersten Mal offiziell mit Ihnen als Geschäftsleiter. Was hat Sie dazu bewogen, von der Zentrale der DFL zu diesem vergleichsweise kleinen Klub zu wechseln?

Andreas Rettig: Wer definiert denn die Größe eines Vereins? Was ist klein und was groß? Sind das Umsatz, Mitgliederstärke, Sympathiewerte? Von den Sympathiewerten her wären wir nämlich ein Riese. Ich habe meine Entscheidungen nicht an der Karriere orientiert, sondern an meiner Jobzufriedenheit.

Klingt fast altmodisch.

Rettig: Aber ein Blick auf meine Vita genügt. Freiburg, Augsburg, Köln war etwas anderes. Köln war und ist für mich Heimat. Mir liegt perspektivisches Arbeiten, etwas zu entwickeln, und außerdem feiere ich gerne Aufstiege. (Anm. der Redaktion: Rettig stieg mit seinen Klubs viermal in die Bundesliga auf). Übrigens war auch die Zeit bei der DFL eine tolle Erfahrung, aber man kann da keine Spiele verlieren, allerdings auch keine gewinnen. Ich wollte wieder mit einer Mannschaft leiden und mit ihr fiebern. Bei der DFL erlebte ich, dass links und rechts die Leute neben mir aufsprangen, und ich war zur Neutralität verpflichtet. Das war nicht mein Ding.

Aber es gab ja einen Grund, dass Sie einst zur DFL gegangen sind.

Rettig: Klar, und ich habe auch während meiner Zeit dort einen erweiterten Blick auf den gesamten Profifußball erhalten. Aber sie müssen da immer den Spagat hinkriegen zwischen dem SV Sandhausen und Bayern München. Alle Klubs im Ligaverband sind gleichberechtigt. Diese Ausrichtung, es allen 36 Klubs recht zu machen, in dem Wissen, dass es global agierende Klubs auf der einen Seite gibt, aber auch Vereine, die sich über den Verbleib in der Zweiten Liga freuen, ist ein schwieriger Spagat. Vor meiner DFL-Zeit war ich immer gewählter Vertreter der "kleinen" Klubs im Ligavorstand.

St. Pauli hat eine schwere Phase hinter sich. Man hat sich letzte Saison mit dem Trainer Ewald Lienen gerade so vor dem Abstieg gerettet.

Rettig: Ewald passt wie die Faust aufs Auge. Die Leute schätzen seine emotionale und authentische Art, das spürt und merkt man hier jeden Tag. Das hat etwas mit dem zu tun, warum auch ich mich für St. Pauli entschieden habe. Es ist eine Sehnsucht bei den Menschen da. Nach Wärme, nach Zugehörigkeit.

Sie sprechen wie ein Romantiker.

Rettig: Ich sehe mich nicht so sehr als Romantiker, ich sehe mich als realistischen Nostalgiker. Nur mit Gefühlsduselei und Träumerei wird es schwer. Aber diese Sehnsucht in einer Zeit, in der alles noch schneller, noch globalisierter wird, in dieser Zeit zu sagen: Nehmen wir ein bisschen den Fuß vom Gas, ohne weniger professionell zu arbeiten. Das ist für mich kein Widerspruch.

Was sind dann Ihre Ziele? Mit diesem Ansatz wäre es überraschend, wenn Sie von sich den Aufstieg in den nächsten zwei Jahren verlangten.

Rettig: Das Ziel ist relativ klar. Natürlich wollen auch wir den größtmöglichen sportlichen Erfolg, aber unter Beibehaltung unserer Leitlinien und der Ideale, die wir uns selbst gegeben haben. Durch selbst auferlegte Beschränkungen nehmen wir auch Wettbewerbsnachteile in Kauf, aber es hat ja einen Grund, warum der FC St. Pauli fast 20 Millionen Sympathisanten hat. Wir bieten halt mehr als nur ein 1:0. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl und das sich nicht nur über Statussymbole definieren, das ist total ausgeprägt und wird auch gelebt. Der Klub hat eine hohe Glaubwürdigkeit.

Man könnte das als Plädoyer sehen gegen umstrittene, fremdfinanzierte Gebilde im deutschen Fußball wie RB Leipzig und Hoffenheim, Ihr erster Arbeitgeber Bayer 04 Leverkusen ist bekennender Werksklub.

Rettig: Es geht nicht darum, grundsätzlich gegen etwas zu sein. Wir sind zwar grundsätzlich gegen rechts und jede Art von Diskriminierung und gehen dafür auch auf die Straße. Wir gehen aber andere Wege, ohne den Anspruch zu erheben, dass dieser Weg der allein selig machende ist. Aber es ist unser Weg. Das Konzept des Mitglieder geführten Vereins halte ich zum Beispiel für interessant, weil es verschiedenste Dinge innerhalb eines Vereins abbildet, Kreativität fördert und sich gegen eine gewisse Verdrossenheit richtet, die wir zum Beispiel aus der Politik kennen, weil sich niemand mehr angesprochen und mitgenommen fühlt und es am Ende parteiübergreifenden Einheitsbrei gibt.

Das widerspricht der These, dass professioneller Fußball in klassischer Vereinsform nicht mehr funktionieren kann, sondern nur durch die Ausgliederung des Profibereichs in eine Kapitalgesellschaft.

Rettig: Da stimme ich nicht zu. Ob ein Verein funktioniert oder nicht, hängt nicht von der Gesellschaftsform ab. Es hängt immer von der Qualität des Managements ab. Aber zu glauben, dass durch eine Ausgliederung plötzlich morgen Milch und Honig fließen, ist eine irrige Annahme. Wenn am Ende in der ausgegliederten Gesellschaft keine Kompetenz vorhanden ist, dann nutzt Ihnen das nichts, dass Sie ausgegliedert haben. Umgekehrt: Wenn Sie in einem eingetragenen Verein keine klugen Entscheidungsträger haben, nutzt Ihnen auch der e.V. nichts.

Sie waren allerdings jahrelang auf der anderen Seite, bei der DFL. Ist eine Rückkehr mit all dem Insiderwissen und dem Einblick in die Details aller anderen Klubs nicht problematisch?

Rettig: Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich zwar Funktionär war, aber dennoch Fußball-Fan geblieben bin. Das eine schließt das andere ja nicht aus. Ich habe in Absprache mit Ligapräsident Rauball meine Arbeit deshalb zum 13. 3. - dem Beginn der Bewertung der Lizenzunterlagen - beendet. Aus Gründen der Integrität habe ich auch dann erst zum 1. 9. beim FC St. Pauli meine Arbeit begonnen.

Dennoch läuft die Entwicklung in eine ganz andere Richtung. Alles wird teurer, verrückter, und man fragt sich, wo das noch enden soll. In Deutschland sprengt Bayern München längst alle Dimensionen.

Rettig: Ja, das ist so. Aber wissen Sie, was mir viel mehr Sorgen macht als das Geld alleine? Das sind Personalien wie der Wechsel von Michael Reschke sowie den Fachleuten aus der medizinischen Abteilung von Bayer 04 Leverkusen zum FC Bayern München. Wenn am Ende die kapitalkräftigsten Klubs nicht nur die besten Spieler holen können, sondern sich auch der Kompetenz aus den Klubs bedienen, dann wird es problematisch. Dann könnte irgendwann die Premier League mit dem vielen Geld auf die Idee kommen, dass man sich jetzt die Jörg Schmadtkes und Max Eberls dieser Welt aus der Bundesliga holt. Und dann haben wir ein Problem.

Sie erwähnten den Kölner Geschäftsführer Jörg Schmadtke. Das klang wie ein Lob.

Rettig: Mich überrascht die Kölner Entwicklung nicht, weil Jörg Schmadtke ja bewiesen hat, dass er perspektivisch arbeiten kann. Was mir gefällt, ist, dass es seitdem keinen Jahrmarkt der Eitelkeiten gibt. Das ist oft ein großes Thema in Klubs, dass es immer um die Frage geht: Wer ist eigentlich wichtiger als wer? Darum geht es aber gar nicht. Von daher finde ich es gut, dass Jörg und Alexander Werle auf der anderen Seite immer eine ganzheitliche Betrachtung an den Tag legen. Der 1. FC Köln macht einen unglaublich stabilen und unaufgeregten Eindruck - so wie der FC St. Pauli (lacht).

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